der Logik als auch die Grundgesetze des Universums von aller Ewigkeit her zu keinem andern Zweck existiert haben als dazu, in letzter Instanz zu dieser neuentdeckten, allem die Krone aufsetzenden Theorie hinzuleiten."
Diametral entgegensteht dieser deutsch-bürokratischen, häufig zu enragierter Kommunalpolitikerprosa führenden Vorgehensweise die weltläufig-pragmatische, die mit den vorhandenen Bausteinen einer gegebenen Kategorienwelt ein eher zweckmäßiges als imposantes Gebäude errichtet und die man zu Ehren von Leuten wie Locke, Hume, Russell/Whitehead und in jüngerer Zeit der Oxforder Philosophie der normalen Sprache und ähnlichen Analytica die "englische" nennen könnte. Einige der wichtigsten modernen "Briten" dieser Sorte redeten und schrieben freilich deutsch: Frege zum Beispiel, Wittgenstein und allen voran David Hilbert, der auf dem internationalen Mathematikerkongreß von Paris im Jahre 1900 jenen berühmten Vortrag über "mathematische Probleme" hielt, in dem es ihm gelang, dreiundzwanzig offene Fragen aus allen damals bekannten Teilbereichen dieser Königswissenschaft zu formulieren, die tatsächlich präzise wie Nadeln die Karte der Mathematik der Zukunft (also unserer Vergangenheit und Gegenwart) absteckten.
Die Terra incognita auf jener Karte haben die nachfolgenden Mathematikergenerationen bis heute nicht vollständig vermessen. Bücher, die in mehr oder weniger technischer Ausführlichkeit und mit mehr oder weniger erzählerischer Verve vor einem Fach- oder Laienpublikum ausbreiten, was daraus wurde, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe - vom 1969 in der Sowjetunion erstveröffentlichten großen Sammelband "Die Hilbertschen Probleme", der auch auf deutsch eine Reihe von Auflagen erlebte, über Jeremy J. Grays kundige und behutsam in die Materie einführende Bilanz "The Hilbert Challenge" aus dem Jahr 2000 bis zum neuesten, hier zu besprechenden Band "The Honors Class" des amerikanischen Mathematikers und Dichters (!) Benjamin H. Yandell.
Der Titel von Yandells Werk bezieht sich auf eine Bemerkung von Hermann Weyl, wonach ein Mathematiker, der eines der Hilbertschen Probleme löst, damit in die Ehrenklasse aller Mathematiker eintrete. Glücklicherweise liegt es Yandell fern, die von ihm porträtierten Größen als bloße Musterschüler der platonischen Akademie unserer Zeit vorzuführen; statt dessen müht er sich redlich, die Balance zwischen dem Aufzeigen der jeweiligen Leistung und respektvoller biographischer Annäherung ohne den Spannungsabfall eines unverbunden auseinanderklaffenden Spalts zwischen öffentlichen und privaten Mathematikerleben zu halten. Das Buch beginnt mit einer Einführung in Hilberts (Göttinger) Zeit und Welt und leitet von da aus zügig über zu einer der zentralen geistesgeschichtlichen Vorbedingungen für das herkuleische Programm der Axiomatisierung wenn möglich der gesamten Mathesis: dem Aufkommen der Mengenlehre, entscheidend befördert durch Georg Cantors Arbeiten vor der letzten Jahrhundertwende, den sich daraus ergebenden mengentheoretischen Antinomien, Fragen der Abzählbarkeit und der Zahlbereiche. Direkt im Anschluß daran folgt der erste größere Porträtversuch, eine Art bündige Kleinmonographie über Kurt Gödel und dessen Unvollständigkeitsresultate, die dem Hilbertschen Programm der Axiomatisierung und Formalisierung des Schließens in den dreißiger Jahren erstmals immanente Grenzen zeigten.
Der Ton des Ganzen sei durch einen Satz über Gödel charakterisiert, der sich dem Bierernst mit Recht verweigert, in dem man sonst gern über kluge Menschen schreibt: "Er brillierte auch in der Theologie und zeigte Interesse an Geschichte, das aber schwand."
Yandells Suchfahrt durch die Hilbertschen Weltmeere erreicht eine weitere Station mit Paul Cohen, der die Frage, wie viele reelle Zahlen es eigentlich gibt, nach einer Vorleistung in Form eines Spezialfallbeweises durch Gödel verallgemeinernd in den Sechzigern beantwortete. Das Erwachen des mächtigen Cohenschen Intellekts, dessen Glanzzeit von Gödels Leistungen buchstäblich eine Generation entfernt war - Cohen wurde 1934 geboren -, schildert Yandell einfühlsam und unsentimental, die "Nacherzählung" der Cohenschen Methode, bestimmte Existenzbeweise qua Radikalisierung gewisser Modellbildungsverfahren zu "erzwingen", ein Verfahren, das zur Lösung vieler anderer Probleme durch andere Mathematiker beitrug, gehört zum Einleuchtendsten und Mitreißendsten, was der Band zu bieten hat. Bis dahin entfällt auf jedes Problem, dessen Geschichte Yandell ausbreitet, jeweils ein Name im Untertitel des betreffenden Kapitels.
Mit den in unserem Computerzeitalter ganz wesentlichen Fragen der Berechenbarkeit, das heißt der regelhaften Vorhersage-Entscheidung über die Lösbarkeit bestimmter Probleme, ändert sich das: Yandells Kapitel dazu hat den Untertitel "Matyasewitsch, Robinson, Davis, Putnam et al."- und genauso gedrängt, um nicht zu sagen holterdipolter, geht es darin mitunter zu. Das ist schade; vor allem deshalb, weil Yandell als gutunterrichteter Amerikaner gerade uns europäischen Lesern an dieser Stelle die kuriose und faszinierende Zusammenarbeit komplexer und sympathischer Figuren wie der klugen Julia Bowman Robinson mit Vertretern der analytischen Philosophietradition vom Rang Hilary Putnams, der mit Robinson zusammen veröffentlicht hat, hätte transparent machen können. Brücken wie die zwischen Putnam und Robinson oder dem Logiker Tarski und seinem originellen Schüler Donald Davidson kennt Europa praktisch nicht, darüber unterrichtet zu werden, wie sie gebaut wurden und was sie aushalten müssen, wäre ein echter Gewinn.
Mit der narrativen Aufbereitung der Volumendefinitionsergebnisse von Max Dehn, die zu den schnellsten Lösungen eines Hilbertschen Problems zählen - schon zwei Jahre nach Hilberts Vortrag war die Antwort gefunden worden -, der Frage nach der Transzendentalität bestimmter Zahlen und allgemein algebraischen Zahlkörperproblemen bewegt sich Yandell danach auf erkennbar vertrautem Terrain; die Darstellung wird routiniert, das Kompakte daran zeigt gelegentlich seine zähe Seite. Spannender gerade für Nichtmathematiker wird das Doppelporträt zweier Deutscher, des Emigranten, Stürmers und Drängers Emil Artin, der das neunte Hilbertsche Problem bezwang, und des naiv-kleinbürgerlichen, aber als Mathematiker sehr scharfsinnigen Helmut Hasse, der sich nach dem Krieg für die allzu bereitwillige Kooperation mit den Nationalsozialisten verteidigen mußte.
Die Kategorie der "vermischten" algebraischen und geometrischen Probleme, zu der Yandell danach übergeht, ist schon als solche nicht sehr attraktiv - wer liest gern "Vermischtes", wenn es um eine Gesamtschau geht -, und zunehmend scheint es beim Lesen auch, als würde die zuvor gespannte elastische Feder zwischen der biographischen und der mathematisch-binnendynamischen Erzählachse nach einer Art Hookeschem historistischen Gesetz langsam ausleiern. Da aber rafft Yandell sich wie ein guter Marathonläufer noch einmal auf und liefert im ausführlichen intellektuellen wie politischen und persönlichen Porträt des großen sowjetischen Mathematikers Andreij Nikolajewitsch Kolmogorov und einigen kleineren Vignetten über andere Genies in diesem verschwundenen Land ein dichtes, gelungenes Zeit- und Denkbild, das seinem Buch einen angenehm unpompösen, überzeugenden Schlußakkord beschert. Ein Dokumentenanhang, in dem der komplette Text der Hilbertschen Rede steht, rundet ein Buch ab, dessen Schwächen nicht zahlreich sind und seinen Stärken entsprechen - denn beide sind gerade das, was sein Erzählton sein muß, um zu überzeugen: menschlich wie Forschung und Irrtum selbst.
DIETMAR DATH
Benjamin H. Yandell: "The Honors Class". Hilbert's Problems and Their Solvers. AK Peters, Natick MA 2001. 486 S., geb., 39,- Dollar.
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