Bezug zur Gegenwart nie ganz verliert.
Zum Ende des Jahrtausends erstarrt Berlin im Frost. Schneemassen auf den Bürgersteigen wachsen zu Eisbergen an, die Kanalisation gefriert, Fäkalien quillen auf die Straßen. Es sind die bekannten Orte: Puschkinallee, Treptower Park, Torstraße und Alexanderplatz, doch sind die Straßen leer. Ganze Viertel werden evakuiert. Staffels Figuren - sie berichten aus der jeweiligen Ich-Perspektive - sind in diesem Szenario vereinzelte Subjekte. Erst das plötzliche Auftauchen anonymer Briefe führt sie zusammen: "Das Netz" lautet der Titel des ersten Romanteils. Mit einem bloßen V. unterzeichnet, lösen die zirkulierenden Manifeste bei den Empfängern zunächst noch Heiterkeit aus. Klischeeverdächtig sind ihre apokalyptischen Phrasen, die in aggressiver Rhetorik die bedingungslose Zerstörung des Rechtsstaats fordern. Später gefriert den Empfängern schon beim bloßen Anblick der Briefe der Schweiß auf der Stirn.
Die Geschichte klingt vertraut. Eine manische Spurensuche nach dem Phantom mit der Chiffre "V.", das ist die Handlung von Thomas Pynchons gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1963. "Hinter und in V. ist mehr verborgen, als irgendeiner von uns je vermutet hatte", heißt es dort. Besessen von der Idee, eine Frau mit dieser Initiale zu finden, spürt der Protagonist einer geheimnisvollen Notiz in den Aufzeichnungen seines Vaters nach, die sein einziger Anhaltspunkt ist. Victoria, Virginia, Veronica, Vera - ob dahinter ein und dieselbe Figur steckt, bleibt bei Pynchon bis zum Schluß ebenso offen wie der Zusammenhang, der zwischen den zahllosen V-Anspielungen bestehen könnte.
Staffel nimmt mit dem Motiv dieser Initiale deutlich Bezug auf den amerikanischen Roman. Anders als bei Pynchon jedoch ist der Leser in "Terrordrom" ein wissender Beobachter, der mitansieht, wie das Kürzel sich allmählich in der ganzen Stadt ausbreitet: Kunsträuber hinterlassen im Gropius-Bau die Initiale, ein Amokläufer im Kino bekennt sich zu den anonymen Rundbriefen, bevor er sich vor der Leinwand erhängt. - "V." wird zur Chiffre einer allgemeinen Verunsicherung.
Wenn Tim Staffel in der Jahrtausendwende den Haß regieren läßt, trifft er damit ein Problem der Gegenwart. Nicht gegen ein Unrecht ist dieser Affekt gerichtet, gegen einen sozialen Mißstand oder eine bestimmte Institution. Es ist die Grundströmung einer diffus opponierenden Trägheit, die jederzeit in Gewalt umschlagen kann. Der Haß "ist die letzte vitale Lebensreaktion in einer Welt der Gleichgültigkeit", heißt es bei Baudrillard. Die anonymen Manifeste bei Staffel verkünden nichts anderes: "Haß ist Leben. Sonst bringen sie mich um."
Am Ende des Jahrtausends ein Szenario der Apokalypse zu zeichnen ist nicht besonders originell. Auf seine Weise beschwört der Roman im Fin de siècle jene Untergangssehnsucht, die Kinozuschauer die Katastrophe des sinkenden Jahrhundertdampfers "Titanic" in Echtzeit wiederholte Male durchleben läßt. Staffel aber operiert ohne den Zauber der Ästhetik. Seine Sätze sind kunstlos, knapp und monoton. "Mir ist schlecht", lautet eine der Lieblingsphrasen der Figuren. Ihr von Obszönität und Gewalt durchsetzter Jargon erspart auch dem Leser nicht eine Anwandlung von Übelkeit: "Er fragt, was ich hier mache, und ich sage, daß ich hier auf den Weltuntergang warte. Er findet das cool. Er setzt sich neben mich und wir rauchen. Er ist höchstens fünfzehn. Ich scheiß auf 2000. D'accord."
Am Ende ist V. bloße Marktstrategie, Terrordrom der Name eines Sperrbezirks in Berlin Mitte, in dem jedermann nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes im Namen der anonymen Macht mit scharfen Waffen Krieg spielen darf. Nicht ohne Anspielungen auf die zeitgenössische Techno-Szene führt Staffel die allmählich fortschreitende Kommerzialisierung dessen vor, was zu Beginn noch als Subkultur wahrgenommen wird. Wenn in einem solchen "Zentrum kontrollierter Eskalation" ein Pay-TV-Sender die Übertragungsrechte der Life-Show besitzt, mag das an Paul Michael Glasers Science-fiction-Vision "Running Man" erinnern: Im Amerika des Jahres 2019 sendet dort das populärste Fernsehprogramm eine Show um Leben, Tod und Dollars, bei der Überlebende nicht vorgesehen sind.
Eines der letzten Manifeste von V. weist mit Ernst Bloch zurück in die Gegenwart: "Das Schönste am Krieg ist die Rückkehr. Heimat. Der Ort, an dem noch niemand gewesen ist." Nachdem der Roman den ganzen Bereich der Hauptstadtplanung, die im Bau befindlichen Regierungsgebäude und Botschaften, in ein Terrordrom verwandelt hat, beginnt mit den letzten Sätzen wenigstens für zwei seiner Figuren ein ganz normales Roadmovie. Es ist ein schönes, sehr lakonisches Ende. Felix und Sinan haben sich einen Ford Mustang gekauft. Sie fragen nicht länger, was aus der megalomanen Großstadtphantasie werden soll. Es zieht sie einfach nur weg. Raus aus der Stadt. JULIA ENCKE
Tim Staffel: "Terrordrom". Roman. Ammann Verlag, Zürich 1998. 220 S., geb., 29,80 DM.
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