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Mit der Odyssee begann vor 2800 Jahren die Geschichte der europäischen Literatur. Michael Köhlmeier hat sich des gewaltigen Stoffes angenommen und liefert eine faszinierende, in die Gegenwart transferierte Neuerzählung. Odysseus ist seit langem verschollen, immer unverfrorener werben Freier um die Gunst seiner Frau, der schönen Penelope. Telemach, der Sohn, registriert verzweifelt das Geschehen, er fürchtet um sein Erbe und um die Ehre seiner Mutter. Da taucht Pallas Athene in Gestalt eines alten und etwas schrulligen Mentors auf und schickt Telemach auf die Suche nach dem Vater. Und wie ...
Mit der Odyssee begann vor 2800 Jahren die Geschichte der europäischen Literatur. Michael Köhlmeier hat sich des gewaltigen Stoffes angenommen und liefert eine faszinierende, in die Gegenwart transferierte Neuerzählung. Odysseus ist seit langem verschollen, immer unverfrorener werben Freier um die Gunst seiner Frau, der schönen Penelope. Telemach, der Sohn, registriert verzweifelt das Geschehen, er fürchtet um sein Erbe und um die Ehre seiner Mutter. Da taucht Pallas Athene in Gestalt eines alten und etwas schrulligen Mentors auf und schickt Telemach auf die Suche nach dem Vater. Und wie ehedem begleiten die Götter seinen Weg.
Produktdetails
- Piper Taschenbuch
- Verlag: Piper
- Abmessung: 186mm x 120mm x 30mm
- Gewicht: 512g
- ISBN-13: 9783492226745
- ISBN-10: 3492226744
- Artikelnr.: 25451891
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Telemach, der Drückeberger
Unangestrengt: Wie Michael Köhlmeier Homer verwandelt / Von Manfred Fuhrmann
Seit nahezu dreitausend Jahren steht Telemach, der Sohn des Odysseus, als Objekt pädagogischer Bemühungen vor den Augen der lesenden Menschheit: Da begreift sich leicht, daß jetzt einmal ein Schriftsteller auftritt, der das Scheitern dieser Bemühungen konstatiert. Michael Köhlmeiers jüngster Roman unterlegt einem alten Text eine neue Melodie: dem Text der ersten vier Bücher der "Odyssee" die Melodie des Anti-Heroischen. Der Einwand, daß diese Melodie in unserem Jahrhundert schon manchem anderen Text unterlegt worden sei, tut der Variante Köhlmeiers keinen Abbruch: Sie ist gewitzt, amüsant und erfreulich
Unangestrengt: Wie Michael Köhlmeier Homer verwandelt / Von Manfred Fuhrmann
Seit nahezu dreitausend Jahren steht Telemach, der Sohn des Odysseus, als Objekt pädagogischer Bemühungen vor den Augen der lesenden Menschheit: Da begreift sich leicht, daß jetzt einmal ein Schriftsteller auftritt, der das Scheitern dieser Bemühungen konstatiert. Michael Köhlmeiers jüngster Roman unterlegt einem alten Text eine neue Melodie: dem Text der ersten vier Bücher der "Odyssee" die Melodie des Anti-Heroischen. Der Einwand, daß diese Melodie in unserem Jahrhundert schon manchem anderen Text unterlegt worden sei, tut der Variante Köhlmeiers keinen Abbruch: Sie ist gewitzt, amüsant und erfreulich
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undoktrinär.
Die ersten vier Bücher der "Odyssee", im Fachjargon "Telemachie" geheißen, stehen für sich; sie sind das Präludium zu den Hauptthemen des Epos, zu den Irrfahrten und der Heimkehr des Odysseus sowie zu der Ermordung der Freier, jener Männer, die Penelope, die Gattin des abwesenden Helden, umworben und sich dabei auf dessen Kosten gütlich getan hatten. Eine Götterversammlung eröffnet das erste Buch: Odysseus, der noch immer, im zehnten Jahr nach der Beendigung des Trojanischen Krieges, in der Ferne weilt, soll endlich heimkehren dürfen. Athene begibt sich nach Ithaka, zum Anwesen des Odysseus, und ermutigt Telemach, den nunmehr Zwanzigjährigen, sich der Freier zu erwehren: Er solle eine Volksversammlung einberufen und auf Reisen gehen, um Kunde über den Vater einzuziehen. Das zweite Buch schildert den Verlauf der Volksversammlung und die Vorbereitungen zur Reise; Telemach bricht zu Schiff nach Pylos auf. Er wird von seiner göttlichen Patronin Athene begleitet. Drittes Buch: der Aufenthalt in Pylos, bei Nestor, dem greisen Trojakämpfer, der viel zu erzählen weiß, allerdings nichts über das Schicksal des Odysseus. Im vierten Buch endlich trifft Telemach, jetzt in Begleitung des Nestor-Sohnes Peisistratos, bei Menelaos in Sparta ein; dort erfährt er, daß sich Odysseus nach der Auskunft des Meergottes Proteus bei der Nymphe Kalypso auf der Insel Ogygia aufhalte.
Der junge Telemach steht im Mittelpunkt dieser einigermaßen idyllischen, mit Götteropfern und Festschmäusen nicht geizenden Handlung. Er wird von Athene nach Kräften ermahnt und zu energischem Vorgehen angefeuert, und Nestor stellt ihm das Vorbild des Orest als Rächer für seinen Vater vor Augen. Die Reden bleiben nicht ohne Wirkung auf ihn; man kann die "Telemachie" als Paradefall lesen, wie ein in den Tag träumender Jüngling zum resolut um seine Rechte kämpfenden Manne wird. Berühmt ist die Szene, in der Telemach seine Mutter aus dem Saale, an Spindel und Webstuhl verweist: "Denn ich bin der Herr hier im Hause."
Dieses Geschehen also gibt das Gerüst von Köhlmeiers neuem Roman ab. Der Autor teilt dem Leser sofort mit, woher er sich seinen Stoff geholt hat: Das Werk ist in vier "Gesänge" gegliedert, in vier Bücher also, die durch ein Vorspiel, drei Zwischenspiele und ein Nachspiel aufgelockert werden. Überdies beginnt der zweite Gesang mit den Worten "Rhododaktylos Eos" ("Der rosenfingrige Morgen") und der dritte mit "Uranos polychalkos" ("Eherner Himmel"), mit Zitaten also aus den Anfängen der entsprechenden Bücher bei Homer. Die Handlung des Romans ist diptychisch, wie die des Vorbilds: Die erste Hälfte spielt auf Ithaka, die zweite stellt Telemachs Erkundungsreise dar.
Die Übereinstimmungen der Struktur reichen bis in die vier Gesänge hinein, und alle wichtigen Figuren des homerischen Musters haben auch bei Köhlmeier ihren Part. Manche Episode und manche Person ist hinzuerfunden; andere Szenen oder Motive wiederum wirken wie eine Paraphrase, fast wie ein Zitat des Originals. "Wenn es dir weh tut, den Namen meines Vaters zu hören, dann geh in dein Zimmer und mach die Tür hinter dir zu!" So herrscht Telemach seine Mutter am Ende des ersten Gesanges an: das moderne Pendant der soeben erwähnten homerischen Szene.
Die Identität des Gerüsts macht die Unterschiede in der Darstellung desto augenfälliger; auf dieser permanenten Spannung beruht nicht zuletzt das Vergnügen, das die Lektüre von Köhlmeiers Reprise bereitet. Im neuen "Telemach" ist das antike Ambiente erhalten und zugleich um alle Errungenschaften der modernen Zivilisation und Technik bereichert: Es werden Zigaretten geraucht, und es wird Kaffee getrunken; es gibt Gitarren mit elektrischer Verstärkung und Revolver; man fährt Auto und benutzt den Zug. Ithaka gleicht einer heutigen Mittelstadt, und Sparta-Lakedaimon hat das Aussehen einer riesigen Metropole, die man auf zwei-bis vierspurigen Autobahnen erreicht. Die Entfernungen sind beträchtlich, und Telemach und Peisistratos treiben sich wochenlang in ihrem Jeep umher, ehe sie nach Sparta gelangen. Von Elis an - einer dem Original unbekannten Station zwischen Ithaka und Pylos - sind die Menschen großenteils schwarz; man scheint sich also in Afrika statt auf der Peloponnes zu befinden.
Solche Aufhebung von Zeit und Raum, solche Vermischung der Lebensformen und Distanzen ist bei modernen Mythen-Reprisen keineswegs neu; man denke etwa an Ransmayrs Roman "Die letzte Welt". Der Kunstgriff gestattet mancherlei erheiternde Effekte; die Freier zum Beispiel, die auf der Veranda vor dem Haus des Odysseus ihr Wesen treiben, rauchend, ein Glas in der Hand haltend, auf Liegestühlen sich fläzend, in weißen Anzügen, mit gelber oder roter Krawatte, geben ein ebenso lustiges wie einprägsames Tableau ab. Der Kunstgriff birgt indes auch eine Gefahr: Er kann das Tor zur Beliebigkeit öffnen, denn er erlaubt es dem Autor, den altüberlieferten Stoff mit aller Last und allem Ballast unseres Jahrhunderts zu befrachten. Auch Köhlmeier hat der Versuchung nicht immer widerstanden, moderne, ja modische Themen einzubeziehen, die mit seinem Sujet nichts zu tun haben. Penelope als Studentin an der Universität von Ithaka, als interessierte Zeugin der Achtundsechziger-Bewegung ist unmotiviert, und ein allzu deutlicher Hinweis auf das Grauen von Babi Jar paßt nicht in ein Buch, das zuallererst auf Unterhaltsamkeit zielt.
Wer seinen Stoff der Bindung an bestimmte raumzeitliche Verhältnisse enthebt, muß um so mehr auf andere Weise für hinlänglich scharfe Konturen sorgen. Köhlmeier bedient sich hierzu zweier miteinander korrespondierender Mittel: einer bestimmten Gattung und eines bestimmten Leitmotivs.
Das Werk liest sich zunächst und über eine lange Strecke hin als das, als was es auf dem Titelblatt angekündigt ist, schlechtweg als Roman - trotz all der vergnüglichen Anachronismen. Doch spätestens bei der von Telemach einberufenen Volksversammlung, zu der sich lediglich ein klägliches Häuflein schütterer Greise einfindet, merkt man auf: Der Roman nimmt groteske Züge an, und aus der Epos-Paraphrase wird eine Epos-Parodie. Dieser Eindruck bestätigt und verstärkt sich im dritten Gesang; das Gattungsmuster ist von nun an eindeutig der Schelmenroman.
Auch Athene wird zur Schelmin: Sie foppt und neckt den Helden, indem sie ihm in immer neuer Gestalt in den Weg tritt: als Mann in einer Cafeteria, als Kellner, als Portier, als Person, die Odysseus sein könnte, als Billardspieler, als Katze. Offensichtlich hat sich Köhlmeier hier vom Proteus-Motiv des Originals anregen lassen: Athene ahmt nach, was der wandlungsfähige Meergreis Menelaos vorgeführt hatte, ehe er sich zu den von ihm verlangten Auskünften bequemte. Man glaubt überdies - etwa bei der Schilderung der schäbigen Pension, mit der Telemach und Mentor nach dem Aufenthalt im Luxushotel vorliebnehmen - die Schatten eines konkreten Vorbildes zu bemerken: des "Satyrikon" von Petron, das ja seinerseits als Parodie der "Odyssee" aufgefaßt sein will.
Der vierte Gesang endlich, der Aufenthalt in der Millionenstadt Lakedaimon, scheint eine weitere Präzisierung zu gestatten: Die geradezu absurde Figur des in einem Kellerloch hausenden, dickbäuchigen, ständig Spritzen benötigenden Menelaos hat nichts mehr mit dem homerischen Helden gemein; ihre grellen Züge verweisen unübersehbar auf das Arsenal Fellinis.
Dem Gattungsmuster entspricht der Leitgedanke: Je deutlicher sich das Werk als Schelmenroman entpuppt, desto unabweislicher zeigt sich, daß Athenes - der "Antagonistin", wie sie mit Recht genannt wird - Erziehungsplan am Wesen Telemachs abprallt. Die Göttin will aus dem jungen Mann einen Soldaten machen: mit dieser Absicht verläßt sie im Vorspiel den Himmel. Im ersten Gesang scheint alles nach Wunsch zu verlaufen. Telemach hat zwar durchaus nicht das Aussehen eines Kämpfers; er ist ein Weichling, aus dem sich nicht vom Mittag bis zum Abend ein Soldat formen läßt. Doch immerhin ereifert er sich in Haß und Zorn gegen Antinoos, den einen Rädelsführer der Freier, so daß die Göttin mit ihm zufrieden ist, und die Mutter verweist er, wie erwähnt, mit den Worten ". . . geh in dein Zimmer!" des Saales.
Der zweite Gesang führt einen von seiner Tatkraft überzeugten Telemach vor, der es fertigbringt, sein offensichtliches Versagen bei der Vorbereitung der Volksversammlung in einen Erfolg umzudeuten: Der Autor treibt mit seiner Figur ein ironisches Spiel. Alsbald jedoch erfolgt ein Rückgriff in die Vergangenheit: wie einst Telemach, der Knabe, von Mentor in Logik und Ontologie unterrichtet wurde. Diese Partie gehört zu den reizvollsten des Werkes, sosehr (oder: weil) sie an Platonisches Dialogisieren erinnert. Für bestimmte Lehrgegenstände - das soll dieser Exkurs wohl zeigen - taugte Telemach durchaus; es lag eben an dem kriegerischen Bildungsziel, daß Athenes Mühe vergebens blieb. Zu Beginn des dritten Gesanges bekundet Telemach programmatisch seine unheldische Haltung - "Er stand nicht da, wie der Pelide Achilleus dagestanden hätte" -, und später erkennt der greise Nestor in ihm, der seinem Vater ganz unähnlich sei, einen "etwas schwermütigen Schwadroneur", einen, "der sich vorm Anpacken drückt".
So geht es fort, bis zur Schlüsselpartie im vierten Gesang: Athene sah zu, "wie Telemach in seinem Herzen immer weiter von seiner Aufgabe abwich, wie er sich ablenken ließ von den schönen Dingen rechts und links seines Weges". Sie stand also im Begriff, zu resignieren, was den Autor zu dem Kommentar veranlaßt, "daß unsere persönliche Neigung . . . ohnehin dahin tendiert, den Telemach bei seinem Befreiungsversuch aus ihrem Einfluß zu fördern". Darum geht es also: Die Menschen sollen sich von den Göttern, von ihren Normen und ihren Launen, kurz, von ihrer Macht befreien; sie sollen ihrem eigenen Willen folgen. So heißt es denn im Nachspiel (mit dem Nebentitel "Errosol", "Lebe wohl!"): "Die Göttin sah, daß sie ihr Ziel nicht erreicht hatte." Und: "Wir können unseren Helden jetzt mit Stolz und Genugtuung betrachten."
Von dem lichten Fluidum des Werkes, von der geradezu Wielandschen Heiterkeit, die aus vielen Partien hervorschaut, läßt sich hier kein hinlänglicher Eindruck vermitteln. Manche Episode, mancher Dialog und manche Reflexion ist allerdings zu breit dahingestreut, und von dem Recht der Motivwiederholung, dem modernen Analogon der stereotyp wiederkehrenden homerischen Formelverse, hat der Autor bisweilen zu großzügig Gebrauch gemacht; auch wäre wohl diese oder jene gelehrte Anspielung oder fremdsprachliche Phrase entbehrlich gewesen. Das Ganze wird hierdurch kaum beschädigt. Der geübte Leser sollte einfach sein Tempo beschleunigen.
Die griechischen Mythen sind offenbar unverwüstlich; die älteste Schicht unserer Überlieferung scheint am zähesten weiterzuwuchern. Unter den zeitgenössischen Reprisen dieser alten Stoffe finden sich etliche, die gegen Heldentum, Krieg und Gewalt plädieren; hiervon ist die jetzt von Michael Köhlmeier verfaßte die am wenigsten angestrengte und am wenigsten anstrengende.
Michael Köhlmeier: "Telemach". Roman. Piper Verlag, München 1995. 485 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die ersten vier Bücher der "Odyssee", im Fachjargon "Telemachie" geheißen, stehen für sich; sie sind das Präludium zu den Hauptthemen des Epos, zu den Irrfahrten und der Heimkehr des Odysseus sowie zu der Ermordung der Freier, jener Männer, die Penelope, die Gattin des abwesenden Helden, umworben und sich dabei auf dessen Kosten gütlich getan hatten. Eine Götterversammlung eröffnet das erste Buch: Odysseus, der noch immer, im zehnten Jahr nach der Beendigung des Trojanischen Krieges, in der Ferne weilt, soll endlich heimkehren dürfen. Athene begibt sich nach Ithaka, zum Anwesen des Odysseus, und ermutigt Telemach, den nunmehr Zwanzigjährigen, sich der Freier zu erwehren: Er solle eine Volksversammlung einberufen und auf Reisen gehen, um Kunde über den Vater einzuziehen. Das zweite Buch schildert den Verlauf der Volksversammlung und die Vorbereitungen zur Reise; Telemach bricht zu Schiff nach Pylos auf. Er wird von seiner göttlichen Patronin Athene begleitet. Drittes Buch: der Aufenthalt in Pylos, bei Nestor, dem greisen Trojakämpfer, der viel zu erzählen weiß, allerdings nichts über das Schicksal des Odysseus. Im vierten Buch endlich trifft Telemach, jetzt in Begleitung des Nestor-Sohnes Peisistratos, bei Menelaos in Sparta ein; dort erfährt er, daß sich Odysseus nach der Auskunft des Meergottes Proteus bei der Nymphe Kalypso auf der Insel Ogygia aufhalte.
Der junge Telemach steht im Mittelpunkt dieser einigermaßen idyllischen, mit Götteropfern und Festschmäusen nicht geizenden Handlung. Er wird von Athene nach Kräften ermahnt und zu energischem Vorgehen angefeuert, und Nestor stellt ihm das Vorbild des Orest als Rächer für seinen Vater vor Augen. Die Reden bleiben nicht ohne Wirkung auf ihn; man kann die "Telemachie" als Paradefall lesen, wie ein in den Tag träumender Jüngling zum resolut um seine Rechte kämpfenden Manne wird. Berühmt ist die Szene, in der Telemach seine Mutter aus dem Saale, an Spindel und Webstuhl verweist: "Denn ich bin der Herr hier im Hause."
Dieses Geschehen also gibt das Gerüst von Köhlmeiers neuem Roman ab. Der Autor teilt dem Leser sofort mit, woher er sich seinen Stoff geholt hat: Das Werk ist in vier "Gesänge" gegliedert, in vier Bücher also, die durch ein Vorspiel, drei Zwischenspiele und ein Nachspiel aufgelockert werden. Überdies beginnt der zweite Gesang mit den Worten "Rhododaktylos Eos" ("Der rosenfingrige Morgen") und der dritte mit "Uranos polychalkos" ("Eherner Himmel"), mit Zitaten also aus den Anfängen der entsprechenden Bücher bei Homer. Die Handlung des Romans ist diptychisch, wie die des Vorbilds: Die erste Hälfte spielt auf Ithaka, die zweite stellt Telemachs Erkundungsreise dar.
Die Übereinstimmungen der Struktur reichen bis in die vier Gesänge hinein, und alle wichtigen Figuren des homerischen Musters haben auch bei Köhlmeier ihren Part. Manche Episode und manche Person ist hinzuerfunden; andere Szenen oder Motive wiederum wirken wie eine Paraphrase, fast wie ein Zitat des Originals. "Wenn es dir weh tut, den Namen meines Vaters zu hören, dann geh in dein Zimmer und mach die Tür hinter dir zu!" So herrscht Telemach seine Mutter am Ende des ersten Gesanges an: das moderne Pendant der soeben erwähnten homerischen Szene.
Die Identität des Gerüsts macht die Unterschiede in der Darstellung desto augenfälliger; auf dieser permanenten Spannung beruht nicht zuletzt das Vergnügen, das die Lektüre von Köhlmeiers Reprise bereitet. Im neuen "Telemach" ist das antike Ambiente erhalten und zugleich um alle Errungenschaften der modernen Zivilisation und Technik bereichert: Es werden Zigaretten geraucht, und es wird Kaffee getrunken; es gibt Gitarren mit elektrischer Verstärkung und Revolver; man fährt Auto und benutzt den Zug. Ithaka gleicht einer heutigen Mittelstadt, und Sparta-Lakedaimon hat das Aussehen einer riesigen Metropole, die man auf zwei-bis vierspurigen Autobahnen erreicht. Die Entfernungen sind beträchtlich, und Telemach und Peisistratos treiben sich wochenlang in ihrem Jeep umher, ehe sie nach Sparta gelangen. Von Elis an - einer dem Original unbekannten Station zwischen Ithaka und Pylos - sind die Menschen großenteils schwarz; man scheint sich also in Afrika statt auf der Peloponnes zu befinden.
Solche Aufhebung von Zeit und Raum, solche Vermischung der Lebensformen und Distanzen ist bei modernen Mythen-Reprisen keineswegs neu; man denke etwa an Ransmayrs Roman "Die letzte Welt". Der Kunstgriff gestattet mancherlei erheiternde Effekte; die Freier zum Beispiel, die auf der Veranda vor dem Haus des Odysseus ihr Wesen treiben, rauchend, ein Glas in der Hand haltend, auf Liegestühlen sich fläzend, in weißen Anzügen, mit gelber oder roter Krawatte, geben ein ebenso lustiges wie einprägsames Tableau ab. Der Kunstgriff birgt indes auch eine Gefahr: Er kann das Tor zur Beliebigkeit öffnen, denn er erlaubt es dem Autor, den altüberlieferten Stoff mit aller Last und allem Ballast unseres Jahrhunderts zu befrachten. Auch Köhlmeier hat der Versuchung nicht immer widerstanden, moderne, ja modische Themen einzubeziehen, die mit seinem Sujet nichts zu tun haben. Penelope als Studentin an der Universität von Ithaka, als interessierte Zeugin der Achtundsechziger-Bewegung ist unmotiviert, und ein allzu deutlicher Hinweis auf das Grauen von Babi Jar paßt nicht in ein Buch, das zuallererst auf Unterhaltsamkeit zielt.
Wer seinen Stoff der Bindung an bestimmte raumzeitliche Verhältnisse enthebt, muß um so mehr auf andere Weise für hinlänglich scharfe Konturen sorgen. Köhlmeier bedient sich hierzu zweier miteinander korrespondierender Mittel: einer bestimmten Gattung und eines bestimmten Leitmotivs.
Das Werk liest sich zunächst und über eine lange Strecke hin als das, als was es auf dem Titelblatt angekündigt ist, schlechtweg als Roman - trotz all der vergnüglichen Anachronismen. Doch spätestens bei der von Telemach einberufenen Volksversammlung, zu der sich lediglich ein klägliches Häuflein schütterer Greise einfindet, merkt man auf: Der Roman nimmt groteske Züge an, und aus der Epos-Paraphrase wird eine Epos-Parodie. Dieser Eindruck bestätigt und verstärkt sich im dritten Gesang; das Gattungsmuster ist von nun an eindeutig der Schelmenroman.
Auch Athene wird zur Schelmin: Sie foppt und neckt den Helden, indem sie ihm in immer neuer Gestalt in den Weg tritt: als Mann in einer Cafeteria, als Kellner, als Portier, als Person, die Odysseus sein könnte, als Billardspieler, als Katze. Offensichtlich hat sich Köhlmeier hier vom Proteus-Motiv des Originals anregen lassen: Athene ahmt nach, was der wandlungsfähige Meergreis Menelaos vorgeführt hatte, ehe er sich zu den von ihm verlangten Auskünften bequemte. Man glaubt überdies - etwa bei der Schilderung der schäbigen Pension, mit der Telemach und Mentor nach dem Aufenthalt im Luxushotel vorliebnehmen - die Schatten eines konkreten Vorbildes zu bemerken: des "Satyrikon" von Petron, das ja seinerseits als Parodie der "Odyssee" aufgefaßt sein will.
Der vierte Gesang endlich, der Aufenthalt in der Millionenstadt Lakedaimon, scheint eine weitere Präzisierung zu gestatten: Die geradezu absurde Figur des in einem Kellerloch hausenden, dickbäuchigen, ständig Spritzen benötigenden Menelaos hat nichts mehr mit dem homerischen Helden gemein; ihre grellen Züge verweisen unübersehbar auf das Arsenal Fellinis.
Dem Gattungsmuster entspricht der Leitgedanke: Je deutlicher sich das Werk als Schelmenroman entpuppt, desto unabweislicher zeigt sich, daß Athenes - der "Antagonistin", wie sie mit Recht genannt wird - Erziehungsplan am Wesen Telemachs abprallt. Die Göttin will aus dem jungen Mann einen Soldaten machen: mit dieser Absicht verläßt sie im Vorspiel den Himmel. Im ersten Gesang scheint alles nach Wunsch zu verlaufen. Telemach hat zwar durchaus nicht das Aussehen eines Kämpfers; er ist ein Weichling, aus dem sich nicht vom Mittag bis zum Abend ein Soldat formen läßt. Doch immerhin ereifert er sich in Haß und Zorn gegen Antinoos, den einen Rädelsführer der Freier, so daß die Göttin mit ihm zufrieden ist, und die Mutter verweist er, wie erwähnt, mit den Worten ". . . geh in dein Zimmer!" des Saales.
Der zweite Gesang führt einen von seiner Tatkraft überzeugten Telemach vor, der es fertigbringt, sein offensichtliches Versagen bei der Vorbereitung der Volksversammlung in einen Erfolg umzudeuten: Der Autor treibt mit seiner Figur ein ironisches Spiel. Alsbald jedoch erfolgt ein Rückgriff in die Vergangenheit: wie einst Telemach, der Knabe, von Mentor in Logik und Ontologie unterrichtet wurde. Diese Partie gehört zu den reizvollsten des Werkes, sosehr (oder: weil) sie an Platonisches Dialogisieren erinnert. Für bestimmte Lehrgegenstände - das soll dieser Exkurs wohl zeigen - taugte Telemach durchaus; es lag eben an dem kriegerischen Bildungsziel, daß Athenes Mühe vergebens blieb. Zu Beginn des dritten Gesanges bekundet Telemach programmatisch seine unheldische Haltung - "Er stand nicht da, wie der Pelide Achilleus dagestanden hätte" -, und später erkennt der greise Nestor in ihm, der seinem Vater ganz unähnlich sei, einen "etwas schwermütigen Schwadroneur", einen, "der sich vorm Anpacken drückt".
So geht es fort, bis zur Schlüsselpartie im vierten Gesang: Athene sah zu, "wie Telemach in seinem Herzen immer weiter von seiner Aufgabe abwich, wie er sich ablenken ließ von den schönen Dingen rechts und links seines Weges". Sie stand also im Begriff, zu resignieren, was den Autor zu dem Kommentar veranlaßt, "daß unsere persönliche Neigung . . . ohnehin dahin tendiert, den Telemach bei seinem Befreiungsversuch aus ihrem Einfluß zu fördern". Darum geht es also: Die Menschen sollen sich von den Göttern, von ihren Normen und ihren Launen, kurz, von ihrer Macht befreien; sie sollen ihrem eigenen Willen folgen. So heißt es denn im Nachspiel (mit dem Nebentitel "Errosol", "Lebe wohl!"): "Die Göttin sah, daß sie ihr Ziel nicht erreicht hatte." Und: "Wir können unseren Helden jetzt mit Stolz und Genugtuung betrachten."
Von dem lichten Fluidum des Werkes, von der geradezu Wielandschen Heiterkeit, die aus vielen Partien hervorschaut, läßt sich hier kein hinlänglicher Eindruck vermitteln. Manche Episode, mancher Dialog und manche Reflexion ist allerdings zu breit dahingestreut, und von dem Recht der Motivwiederholung, dem modernen Analogon der stereotyp wiederkehrenden homerischen Formelverse, hat der Autor bisweilen zu großzügig Gebrauch gemacht; auch wäre wohl diese oder jene gelehrte Anspielung oder fremdsprachliche Phrase entbehrlich gewesen. Das Ganze wird hierdurch kaum beschädigt. Der geübte Leser sollte einfach sein Tempo beschleunigen.
Die griechischen Mythen sind offenbar unverwüstlich; die älteste Schicht unserer Überlieferung scheint am zähesten weiterzuwuchern. Unter den zeitgenössischen Reprisen dieser alten Stoffe finden sich etliche, die gegen Heldentum, Krieg und Gewalt plädieren; hiervon ist die jetzt von Michael Köhlmeier verfaßte die am wenigsten angestrengte und am wenigsten anstrengende.
Michael Köhlmeier: "Telemach". Roman. Piper Verlag, München 1995. 485 S., geb., 48,- DM.
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