jetzt wie neu entdecken, in der alten Edition weiterlesen wollen, Sie brauchen dann Nachschub. Die jetzt erschienene Übersetzung bricht nämlich schon nach der 282. Nacht ab!
Die Verwirrung ist groß. Wieso haben die Erzählungen von Tausendundeiner Nacht nur 282 Nächte? Warum ist hier, wenn wir dem Verlag und der Übersetzerin glauben, die älteste arabische Fassung zum ersten Mal zugänglich? Wo sind die Geschichten von Sindbad, wo "Aladdin und die Wunderlampe", wo "Ali Baba und die vierzig Räuber"? Warum sollen wir eine "Tausendundeine Nacht"-Fassung lesen, in der die berühmtesten Geschichten fehlen? Wahrlich, es ist eine merkwürdige Geschichte mit den Geschichten von Tausendundeiner Nacht, eine Geschichte, die selber der Aufnahme in diese Geschichtensammlung in höchstem Maße würdig wäre. Und weder wissen wir, wo diese Geschichte beginnt, noch ahnen wir, wann und wie sie endet. Mit der jetzt vorgelegten Ausgabe endet sie sicherlich nicht, sondern beginnt erst einmal wieder neu.
Doch der Reihe nach. Die frühesten schriftlichen Erwähnungen des Werks, das ursprünglich aus Indien stammt und dann ins mittelpersische Pahlavi übertragen wurde, finden sich - noch unter dem persischen Titel "Tausend Märchen" - bei arabischen Schriftstellern des zehnten Jahrhunderts. "Tausend" ist hier nicht wörtlich zu nehmen, sondern heißt nichts anderes als "unzählbar viele". Das längste zusammenhängende, unter dem Titel "Tausendundeine Nacht" bekannte und bis heute erhaltene Textstück, die sogenannte Galland-Handschrift, entstand wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts und enthält die besagten 282 Nächte.
Auf der 1984 publizierten kritischen Edition dieser Galland-Handschrift beruht die neue deutsche Fassung. Diese ist somit die erste und einzige deutsche Übertragung auf einer gesicherten Textgrundlage. Dies bedeutet jedoch nicht, daß diese, und nur diese Ausgabe "Tausendundeine Nacht" ist. Auch kann man nicht, wie es auf dem Buchumschlag geschieht, ohne Augenzwinkern behaupten, diese Übersetzung mache "erstmals die älteste arabische Fassung in deutscher Sprache zugänglich". Was wir in der neuen Übersetzung lesen, ist weitgehend derselbe Text, aus dem auch alle seriösen früheren Übersetzungen geschöpft haben, seit der französische Orientalist Antoine Galland ihn vor genau dreihundert Jahren (in einer allerdings sehr freien Übertragung) bekannt gemacht hat. Nach ihm ist die "Galland-Handschrift" benannt. Zwar bietet die kritische Edition eine bessere Textgrundlage und des öfteren auch eine andere Reihenfolge der Geschichten als andere Ausgaben. Der unbefangene, nicht spezialisierte Leser liest gleichwohl zunächst über weite Strecken wörtlich dasselbe, was er aus früheren Übertragungen kennt - nur eben viel weniger. Denn es war Gallands Ehrgeiz, aus den 282 Nächten der Handschrift wortwörtlich tausendundeine Nacht zu machen. Dies geschah, indem er aus allen ihm zur Verfügung stehenden Quellen, inklusive einem leibhaftigen syrischen Geschichtenerzähler, das Gesamtwerk kompilierte und so die in der mittelalterlichen Handschrift fehlenden Erzählungen wie "Aladdin und die Wunderlampe", "Sindbad der Seefahrer" und "Ali Baba und die vierzig Räuber" hinzufügte. Diese praktisch neu erfundene Fassung hat ihrerseits in die arabische Welt zurückgewirkt, wo seit dem neunzehnten Jahrhundert nun ebenfalls "Tausendundeine Nacht"-Ausgaben nach dem Vorbild Gallands aus verschiedenen Quellen kompiliert wurden. Bis 1984 die kritische Edition der Ur-Handschrift erschien, bestand daher ein einzigartiges, anarchisch schönes Quellenchaos, mit Rückübersetzungen aus dem Französischen ins Arabische, mit gefälschten Handschriften, auf zweifelhaften Quellen beruhenden Drucken und immer neu hinzugekommenen oder ausgesparten Textstücken.
Freilich waren "Tausendundeine Nacht" schon im Mittelalter ein durch und durch hybrides, sich jeder Festlegung entziehendes Werk, und daher wäre es töricht, dasjenige, was Galland daraus gemacht hat, gegen ein vermeintlich authentisches arabisches Werk auszuspielen. Gallands Schöpfung ist vielmehr als eigenständiges Meisterwerk zu würdigen. Lichtenberg, Wieland, Lessing, Herder haben davon geschwärmt, um nur die ersten und berühmtesten deutschen Leser zu nennen, und der Einfluß auf Goethe ist, glaubt man einer Studie von Katharina Mommsen, schier unermeßlich.
Der Begriff des Märchens, mit dem die Sammlung verbunden wurde, war dabei zunächst keineswegs "mit dem biedermeierlichen Bildungs- und Familienideal verknüpft", das die Übersetzerin in ihrem Nachwort mit abenteuerlicher Leichtfertigkeit ins "achtzehnte Jahrhundert" vordatiert. Aber diese kleine Unseriosität verzeiht man Claudia Ott gern, zumal sie nicht auf ihrem Mist, sondern dem einer modischen Arabistik gewachsen ist, die hinter jedem westlichen Blick auf den Orient einen klischeehaften Orientalismus wittert, ohne zu merken, daß das Klischee vom Klischee mittlerweile weitaus häßlichere Blüten treibt als das Klischee selber. Tatsächlich hat die Übersetzerin eine hervorragende Arbeit geleistet, in Präzision und Nähe zum Original mit keiner anderen Übersetzung zu vergleichen, dabei zeitgenössisch und stilsicher im Ton. Auch wenn wir die späteren, aus weiteren Quellen kompilierten Fassungen nicht missen möchten: Diese Ausgabe eröffnet einen ganz neuen, frischen Blick auf eines der großen Werke der Weltliteratur - ein Verdienst mindestens so sehr der Übertragung wie der verbesserten, kritischen Textgrundlage. Wie entschlackt, ja geradezu befreit diese Fassung im Vergleich mit den besten bisherigen wirkt, merkt man schon an den formelhaften Überleitungen, mit denen Schahrasad ihre Erzählungen jeden Morgen unterbricht - und die in vielen Ausgaben stark verkürzt oder ganz unterschlagen werden. Bei Ott heißt es nüchtern wie in der Handschrift: "Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen", während Littmann in einer Reimprosa, die sich im Original gar nicht findet, übersetzt: "Da bemerkte Schehrezad, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an."
Ott hat sich dem dialektal eingefärbten, stilistisch einfachen und klaren Duktus des Originals anvertraut und auf Ausschmückungen und die bei anderen Bearbeitern beliebten Eingriffe aller Art verzichtet. Bemerkenswerterweise erscheint erst dadurch das Original als Meisterwerk eigenen Rechts, das auch ohne die später hinzugefügten Geschichten und sprachlichen Manierismen auskommt. Lediglich bei den zahlreichen eingestreuten Gedichten, die für den Handlungsverlauf oft keine Bedeutung haben und mehr aus sich heraus glänzen wollen, ist die Übersetzung von Littmann manchmal im Vorteil. Er denkt stärker aus der deutschen Poetik heraus, als Ott dies tut, die wiederum näher am Original ist, teilweise bis in das Metrum hinein - was oft überraschend gut gelingt. Littmann: "Ich hielt euch für einen festen Panzer, um abzuwehren / Der Feinde Pfeile von mir; doch ihr wart die Spitzen von ihnen / Ich pflegte auf euch zu hoffen einstmals in allen Gefahren, / Wenn meine rechte Hand auch der Linken sich mußte bedienen." Ott: "Ich setzte als feste Burg euch gegen die Feinde ein / Doch nun seid ihr selbst der Feinde Pfeile geworden. / So, wie eine linke Hand die rechte zu Hilfe ruft / So rief ich euch ständig an in all meinen Sorgen."
Doch liegt für uns heutige, anders als für manche mittelalterliche Leser das eigentliche Vergnügen ohnedies nicht in den Gedichten, sondern in der hemmungslosen, noch den zeitgeistigsten Filmemachern als Vorbild dienenden Pulp-fiction, in der alles möglich und die Metamorphose alltäglich ist, in der die Phantasie, der Sex, die Gewalt zügellos sind und alles doch nie nur roh wirkt, sondern durch Sprache und Symbolik auch tief, raffiniert und oft von wunderbarem Humor. Wenn sich dann eine Geschichte in die andere schachtelt, will man in der Tat nicht mehr aufhören zu lesen und versteht nur zu genau, warum Galland immer wieder neue Quellen zu weiteren Geschichten zusammengesucht hat.
"Tausendundeine Nacht". Aus dem Arabischen übersetzt von Claudia Ott. Verlag C. H. Beck, München 2004. 687 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main