ohnmächtiges Objekt der Dichtung gewesen zu sein, nicht ganz. Dennoch soll gelten, was Marianne Frisch zum Scheitern ihrer Ehe gesagt haben soll: "Ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches Material." In der zitierenden Aneignung durch die Stieftochter wird der Satz zu einer Art Mantra, ein Instrument der Auseinandersetzung mit sich, der Welt und der Literatur.
Die 1943 in Zürich geborene Tochter des damaligen Architekten hat die Gattungsbezeichnung "Eine Bestandsaufnahme" mit Bedacht gewählt, wohl wissend, dass das wunderliche Bauwerk der Erinnerung nicht vermessen werden kann. Zum Glück ist dieses Ergebnis angestrengter Erinnerungsarbeit keine Abrechnung und auch kein Selbstgespräch über "dramatische Familienverhältnisse und die katastrophalen Auswirkungen für Kinder" geworden, sondern eine erstaunlich selbstkritische Klage um verlorene Zeit und vertane Chancen, vor allem aber ein Buch des Staunens "vor dem Unfaßlichen des Lebens".
Ursula Priess hat trotz des entliehenen Titels weitgehend darauf verzichtet, ihren Vater mit glanzvollen Formulierungen zu übertreffen. Dass er nun seinerseits zum literarischen Material wird, was immer das heißen mag, kann weder ihr Stil versachlichter Empfindsamkeit noch die Technik der zitierenden Collage verhindern. Im Wechsel zwischen erster und dritter Person wird sie sich wie als Gegenzauber selbst zur literarischen Person. Leitmotivisch wird der fragmentarische Text von Spiegelungen zusammengehalten. Im Traum erscheint der Vater in der abgewandelten orphischen Situation: "Nie schaute er zurück, nie, und immer stand ich fassungslos, daß er sich nicht noch einmal umdreht und zurückschaut zu mir." Dabei lässt Ursula Priess keinen Zweifel, dass das Verhalten des realen Vaters dem gar nicht entsprochen hat. Als der Geliebte, der - Fügung einer Wirklichkeit, die ihre Geschichte erraten habe - einmal der Konkurrent ihres Vaters bei Ingeborg Bachmann war, sie aus "Angst vor Verstrickung" verlässt, lässt sie spiegelbildlich sich selbst den Rückblick verweigern. "Nein, sie hat nicht zurückgeschaut, als er fortging, nicht ein Mal; sie hat sich nicht umgedreht, ihm nicht nachgeschaut -."
Nach dem Vorbild von Montaignes Essai über das Bereuen beklagt die Tochter versäumte Dankbarkeit und Bewunderung einem gegenüber, der offenbar über Scheidung und orphische Trennungen hinweg trotz seiner ewigen "Sehnsucht nach Aufbruch" versucht hat, ein verständiger Vater zu sein. Dabei verschweigt Ursula Priess auch in der Sprachform nicht die Zwischenstufen zu ihrer Einsicht, dass die Schuld eines Vaters womöglich zur Rechtfertigung der eigenen Schwächen brauchbar war.
Eine von anderen als "Ungeheuerlichkeit", von ihr als "verheerend" empfundene Tagebuchnotiz Frischs ("die schlichte Nachricht, daß ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut: der Frau zuliebe") steht beispielhaft für das Spiegelkabinett, in dem sich die Tochter ohnmächtig verirrt sah. Als Person gemeint zu sein erschien ihr darin ebenso als Missbrauch, wie nicht gemeint zu sein. Wie aber diese Notiz gemeint war, weiß sie bis heute nicht. Sie hatte den Vater nie gefragt, aus immer der gleichen diffusen Angst. Dabei hatte er ihr, als sie zwanzig war, geschrieben: "Es wird jetzt alles gegenseitiger. Werden wir einander begleiten? Ich hoffe es, Ursel, ich wünsche es; ich bin bereit dafür." Sie aber hatte gerade diesen Brief "weggepackt und vergessen mitsamt dem Versprechen und der Bitte darin -." Immer wieder daher das schlichte Eingeständnis, sich selbst im Nachhinein nicht zu verstehen.
Als heilsam zugleich und neue Abgründe auftuend erscheint der Tochter, dass nun sie die Autorschaft innehat, dass sie es ist, die "neu arrangiert, in eine Figur verpackt, ein Bild ausstaffierend, als Kontrast fungierend -". Das aber geschieht fast ganz ohne auftrumpfenden Gestus, vielmehr im Ton der Trauer, ihre Sehnsucht geknebelt, nicht gefragt, nicht mitgelebt und mitgelacht zu haben. Was sie zu bannen suchte und jenem Geliebten über den spiegelnden Gewässern von Venedig nur wie aus versehentlichem Verrat sagte, steht nun unleugbar geschrieben: "Ich bin die Tochter von Max Frisch!"
Ursula Priess: "Sturz durch alle Spiegel". Eine Bestandsaufnahme. Ammann Verlag, Zürich 2009. 178 S., geb., 18,95 [Euro].
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