Lektorin in einem Hamburger Hörbuchverlag, ein Buch über ihren Kampf mit dem Krebs geschrieben. Doch dieses Buch ist erkennbar anders als die Masse an autobiographischen Krebsromanen und Erfahrungsberichten, die - ursprünglich zu therapeutischen Zwecken geschrieben - wegen der großen Nachfrage doch in den Buchläden landeten. "Sterben kommt nicht in Frage, Mama!" ist ehrlich, witzig, ironisch, gut geschrieben, und es erspart dem Leser nichts.
Judith End erzählt, wie an einem Mittwochmorgen plötzlich und ohne Vorwarnung der Tod in ihr Leben tritt. Krebs - eine Grausamkeit, von der die junge Frau sich bis dahin weit entfernt gefühlt hatte. Es sind schließlich immer die anderen, die krank werden, die die Haare verlieren, die Mutter, Vater, Schwester, den Partner verlieren, die selbst sterben. Jetzt also sie. Dabei ist sie doch gerade dabei, sich zu verlieben, steht kurz vor dem Examen und hat viele Pläne. Wer soll sich denn um ihre Tochter, die kleine Paula, kümmern, wenn sie nicht mehr da ist? Gedanken, die Judith fast zerreißen.
Doch harmlos im Vergleich zu dem, was noch kommt. End beschreibt ihre Verzweiflung ungeschönt: "Die Tage schleichen dahin, gleichen einander wie ein Blatt dem anderen. Bonjour tristesse am Sonntag. Bonjour tristesse am Montag. Bonjour tristesse am Dienstag. Bonjour du totes Leben." Aber was soll das sein, tot? "Gar nichts. Nada. Nothing. Unendliches schwarzes Loch. Das Problem ist, ich kenne nichts außer Leben. Lebendig sein, das ist der einzig denkbare Zustand. Ich habe einfach immer noch eine Scheißangst." Aber nicht nur Judith selbst, sondern auch die Menschen um sie herum geraten angesichts der Diagnose aus dem Gleichgewicht: Da sind die zerknirschten Ärzte, die der jungen Mutter nicht die geringste Hoffnung auf Heilung machen können. Da sind die sofort angereisten Eltern, die ihre Verzweiflung in Aktionismus begraben und am Ende genauso hilflos dastehen wie die kranke Tochter. Da ist der Typ, in den Judith sich gerade verliebt hat, der sich einer Beziehung mit einer Todgeweihten aber lieber nicht aussetzen will.
Vor allem aber ist da die vierjährige Paula, die ihre Mutter abgöttisch liebt und sonst niemanden hat auf dieser Welt. Auch für Paula läuft das Leben nicht wie in einer amerikanischen Seriengroßfamilie: "Ich liebe dich, Mum. Ich liebe dich, Paula. Und Gott macht alles wieder heil." Paula ignoriert die heulende Mutter, spielt den Krebs einfach weg, schämt sich für "das Glatzenmonster", das die Mutter nach der Chemotherapie geworden ist. Und doch ist sie es, die Judith die Kraft gibt, das alles durchzuhalten. Und Paulas Kinderfragen ("Was passiert eigentlich mit so einer abgeschnittenen Brust?") sind es auch, die Judith ihr Selbstmitleid vergessen lassen. Mit Selbstironie wird sogar die "Fett-und-kahl-Krise" erträglich, und schließlich kann das "Glatzenmonster" in aller Nüchternheit feststellen: "Eine Brust im Müll und ein eingefrorener Eierstock in Bonn. Bilanz einer neuen Weiblichkeit."
Ein neues Gefühl der Geborgenheit erlebt Judith in der Gemeinschaft der Krebspatientinnen, die sich wöchentlich in der Ambulanz treffen, um Gift in ihre Adern laufen zu lassen. "Eine traurige, aber auch eine authentische, eine tröstende, eine erlösende Welt", schreibt End. "Zwischen mir und den anderen Krebsfrauen gibt es eine Geheimsprache, die draußen keiner verstehen kann. Codewort: Karzinom." Welch eine Wohltat, als eines Tages zwischen all den grauen Perücken auch noch ein paar leuchtend rote Lippen und ein junges Gesicht auftauchen. Erschöpfung wird zu Kraft. Angst zu Mut.
So schafft es Judith, einen Abend lang alles zu vergessen, um mit ihren Freundinnen tanzen zu gehen. Wenn die Tränen kommen, sagt sie sich: "Kopf hoch, Bauch rein, Prothese raus und zurück auf die Tanzfläche." Mit solch eiserner Willenskraft gelingt es Judith dann sogar, ihr Examen durchzuziehen. Autopoiesis schlägt Karzinom. Die glänzend bestandene Prüfung ist der größte Sieg, den die junge Frau dem Krebs abringen konnte: "Ich kann mit keinem blonden Pferdeschwanz mehr wedeln und auch nicht mit den Wimpern klimpern. Aber alles Wichtige ist noch da. Ich habe meine Gedanken und meine Sprache."
Wie vielfältig diese Sprache und wie feinsinnig diese Gedanken sind, zeigt Ends Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Trotzdem wehrt sich die Autorin gegen die Annahme, sie sei durch den Krebs in eine höhere Sphäre des Bewusstseinszustands getreten, wie das in platten Mutmachbüchern gern behauptet werde. End verachtet diese Geschichten über Amazonen, die sich die Brust abschneiden, um besser kämpfen zu können. Und doch ist "Sterben kommt nicht in Frage, Mama!" in gewisser Weise auch ein Amazonenbuch. Nur erschöpft sich die Geschichte nicht in Kampfrhetorik und mythologischer Überhöhung einer garantiert siegreichen Heldin.
Judith End erzählt auch von den jämmerlichen Momenten, die sie durchlitten hat, sie erzählt von Schwäche, Verzweiflung, Resignation und Angst. Das ist das Unbarmherzige an diesem Buch, aber auch seine Stärke.
SARAH ELSING
Judith End: "Sterben kommt nicht in Frage, Mama!"
Droemer Verlag, München 2010. 304 S., geb., 16,95 [Euro].
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