Hier entstand, wie es der unlängst verstorbene langjährige Nikolai-Pfarrer Christian Führer formulierte, das DDR-weit praktizierte "Leipziger Modell" von Gebet in den Kirchen und Demonstrationen auf den Straßen, das im Herbst 1989 "ein Wunder biblischen Ausmaßes" ermöglicht habe.
Die Friedensgebete trugen der Nikolaikirche die nachträglich nobilitierende Verdammung als "Zentrum der Konterrevolution" durch Erich Honecker ein. Der Münchner Pfarrer Hermann Geyer beschreibt ihre Entwicklung in einem umfänglichen Band, den eine interdisziplinäre Autorengruppe um den Leipziger Kirchenhistoriker Armin Kohnle im Auftrag der Kirchgemeinde erarbeitet hat. Der Untertitel "850 Jahre Kirche in der Stadt" benennt den Anlass der Publikation.
Das postulierte Jubiläum basiert, wie der Herausgeber selbst einräumt, auf einer etwas bemühten Konstruktion. Denn mangels eines Grundsteinlegungs- oder Weihedatums gibt es nur Indizien, dass die Anfänge des Erstbaus, der im Zuge einer Erweiterung der damals noch nicht sonderlich bedeutenden Siedlung Lipz entstand, um 1165 anzusetzen sind. Angesichts der Quellenarmut aus dieser Zeit bewegen sich solche Aussagen, wie der für das Kapitel zur mittelalterlichen Geschichte der Kirche verantwortliche Landeshistoriker Erno Bünz betont, auf ziemlich unsicherem Boden.
Jahrzehnte nach Erscheinen der letzten größeren Arbeiten zu St. Nikolai war das Buch auch ohne Jubiläum überfällig. Es überzeugt mit seinem Ansatz, der Studien zur Geschichte, Bau- und Kulturgeschichte mit Berichten über das Gemeindeleben zusammenführt. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Verknüpfung der Kirche mit der Stadt. Was gerade in diesem Fall naheliegt, denn St. Nikolai war und ist eine idealtypische Bürgerkirche. Sie verdankt ihre Existenz, betont Pfarrer Bernhard Stief in seinem Beitrag, keinem Bischof, keinem Kloster und keinem König, sondern dem überwiegend vom Handel lebenden Leipziger Bürgertum, das den Kirchenbau förderte.
Dementsprechend deutlich spiegeln sich in der von Heinrich Magirius und Gerhart Pasch dargestellten Bau- und Restaurierungsgeschichte die Phasen der Leipziger Stadtentwicklung wider. Die Entstehung des spätromanischen Erstbaus, auf den die unteren Teile der kompakten Turmfront zurückgehen, fällt mit dem Aufschwung der Stadt im letzten Drittel des zwölften Jahrhunderts zusammen. Die Errichtung des neuen, spätgotischen Hallenlanghauses im frühen sechzehnten Jahrhundert stand im Zeichen gestiegener Repräsentationsbedürfnisse der aufstrebenden Handelsmetropole.
Nach der Einführung der Reformation 1539 wurden die vielen, nun liturgisch überflüssigen Nebenaltäre entfernt. Dass sich von der reichen mittelalterlichen Ausstattung sehr wenig erhalten hat, liegt aber auch am klassizistischen Umbau des Kircheninneren im späten 18. Jahrhundert, den der tatkräftige Bürgermeister Carl Wilhelm Müller vorantrieb. Der inzwischen stark verfallene Bau war damals, wie ein Zeitgenosse mit der Rigorosität der Aufklärungszeit schrieb, vollgestopft mit "Figuren und Grotesken", die "dem guten Geschmack zuwider und für den Erneuerer gar nicht zu brauchen waren". Folgerichtig mussten sie "alle vorher erst weggenommen werden, ehe an eine Verbesserung zu denken" war.
Die Erneuerung wurde viel umfassender als zunächst avisiert. Stadtbaudirektor Johann Carl Friedrich Dauthe folgte dabei, wie Pasch zeigen kann, den Empfehlungen des französischen Architekturtheoretikers Marc-Antoine Laugier für die Umgestaltung gotischer Kirchen, zu denen die Entfernung der Maßwerkfenster ebenso gehörte wie die Umwandlung der Pfeiler zu antikisierenden Säulen und die Umdeutung des Rippengewölbes in eine Kassettendecke. Dauthe nahm diese keineswegs nur behutsamen Eingriffe mit so viel Geschick vor, dass das von ihm hinterlassene Kircheninnere mit seiner durch zarte Rosa-, Grün- und Weißtöne akzentuierten Einheitlichkeit und Weite als eine selbständige Schöpfung erscheint, auch wenn die spätgotische Raumstruktur erkennbar bleibt. Elegant, aber frei von klassizistischer Wucht und Kühle überrascht es Besucher bis heute mit anmutiger Freundlichkeit. Seit dem großen Umbau hat die Nikolaikirche manche schwere Zeit erlebt, aber auch unter widrigen Bedingungen viel denkmalpflegerische Fürsorge erfahren. 1943 richtete ein Luftangriff große Schäden an. Unter dem DDR-Regime dauerte es Jahrzehnte, bis sie behoben werden konnten. Infolge der kirchenfeindlichen Politik ging die Zahl der Gemeindemitglieder rapide zurück. Während der Friedensgebete 1989 platzte St. Nikolai dennoch aus allen Nähten. Neunzig Prozent der Teilnehmer waren allerdings Nichtchristen. Deren Interesse ging schlagartig zurück, als sich der Untergang der DDR abzeichnete. Das bereits 1986 aufgestellte Schild "Nikolaikirche - offen für alle" lockt aber nach wie vor zahlreiche Besucher. Und dass hier, wie es der Pfarrer auf den Punkt brachte, "nicht Thron und Altar, sondern Straße und Altar zusammengehören", ist bis heute zu spüren.
ARNOLD BARTETZKY.
Armin Kohnle (Hrsg.): "St. Nikolai zu Leipzig". 850 Jahre Kirche in der Stadt.
Im Auftrag der Kirchgemeinde St. Nikolai. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2015. 350 S., zahlr. Abb., geb., 24,95 [Euro].
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