Otten, Jahrgang 1951, vorgelegt.
Otten ist ein sehr vielseitiger und in den Niederlanden auch sehr bekannter Autor. In seinen Romanen und Essays - zwei frühere Bücher von ihm liegen auf Deutsch im Residenz-Verlag vor - hat er sich schon öfter mit Fragen des Sehens, des Zeigens und des Verbergens beschäftigt. In seinem neuen Roman ist es eine Leinwand in einem Maleratelier, die einen unstillbaren Erzähldrang entfaltet und sich anfangs vorstellt: "Ich bin eine Sehr Dicht Gewebte Viermal Universal Präparierte."
Das ist sicherlich kein besonders einprägsamer Name, und was von der Leinwand erzählt wird, entbehrt zunächst auch nicht einer gewissen Undeutlichkeit und beruht auf einer doch sehr eingeschränkten Sicht. Denn das Leben einer Leinwand ist, zumindest solange sie nur herumsteht, nicht gerade reich an Höhepunkten. In den ersten Monaten ihres Daseins hängt sie auf einer Rolle zum Verkauf gegenüber einem Reproduktionsdruck, der von van Gogh sein könnte. Nachdem der Maler die erzählende Leinwand, auf Rahmen gespannt, erworben hat, steht sie mit ihrer Vorderseite, also dem Gesicht, zur Wand in einer hinteren Ecke des Ateliers und sieht die ersten Wochen naturgemäß nichts. Angesichts solcher Einschränkungen des Blickwinkels und der Erlebnisfülle erscheint das Kunststück, eine Leinwand erzählen zu lassen, beinahe kühn. Zumindest können die Leser recht bald aus dieser Tatsache und daraus, wie sie sich präsentiert, schließen, dass sie es wahrscheinlich mit einem handlungsarmen Roman und eher mit einem experimentell angelegten als einem konventionell erzählten Text zu tun haben.
Die Sehr Dicht Gewebte Viermal Universal Präparierte wird von einem Porträtmaler namens Felix Vincent gekauft, den sie von da an ebenso ehrfurchtsvoll wie nervtötend "Schöpfer" nennt. In Zeiten des entmachteten und auch schon wieder zu seinen alten Selbstherrlichkeiten zurückgekehrten Autors klingt "Schöpfer" einfach himmlisch, zumal der Anklang an die Genesis und deren Schöpfer gleich mitgeliefert wird. Dieser hier ist ein Künstler, wie er im Buche steht - hochtalentiert, besessen, erfolgreich und vor allem an der eigenen Geldvermehrung, wenn auch nicht nur an dieser, interessiert.
Er beabsichtigt, das Haus, das er mit seiner Frau Lidewij bewohnt, zu kaufen, und dazu braucht er Geld. Lidewij wird später schwanger, womit ein weiterer zentraler Aspekt von Schöpfers Schöpferkraft aufgerufen wird, der im Verlauf des Romans eine brisante Rolle spielen soll. Denn so durchschlagend Schöpfers Erfolg auf dem Gebiet der Fortpflanzung auch ist, er erschöpft sich keineswegs darin. Seine Porträts haben einen so guten Ruf in der Kunstwelt, dass eines schönen Tages jemand auftaucht, der von Vincent eben- das verlangt, was nur ein Künstler kann, der auch ein Schöpfer ist. Ein älterer, steinreicher Herr namens Specht konfrontiert Schöpfer mit dem Auftrag, einmal nicht nach dem Leben, sondern nach dem Tod zu malen, und will dafür viel Geld zahlen. Der Maler soll auf der Grundlage eines Fotos und dubioser Videoaufnahmen Spechts toten Sohn namens Singer auf der Leinwand wieder zum Leben erstehen lassen. Sobald der Auftraggeber das Atelier verlassen hat, weiß unsere Leinwand, dass ihre Stunde gekommen ist.
Der mit Dorian-Gray-Anleihen gespickte, aber sich darin nicht erschöpfende Roman gerät von nun an immer verwirrender und vielschichtiger an jene Grenze zwischen Sein und Schein, die den gleichsam osmotischen Austausch von Energien zwischen Menschen, Dingen und Medien bestimmt. Die Frage, wann ein Mensch lebendig sei, wann und wie er ins Leben trete, wird dabei auf unterschiedlichen Ebenen behandelt. Die Leinwand ist schließlich nicht mehr sie selbst, sondern nur noch Singer. Dieser wiederum regt Vincent und Lidewij zu einem Schöpfungsakt der anderen, biologischen Art an, in welchem Lidewij sofort einen "Volltreffer" erahnt. Das Ergebnis lässt nicht lange auf sich warten, das Ende offenbart Merkwürdiges auch über Specht.
Es ist das wohl eigentliche Leseerlebnis, wie sich die anfangs etwas einfältige Erzählsicht der Leinwand in eine Vielzahl von Perspektiven aufspaltet, die sich auch ständig miteinander überschneiden, sich gegenseitig durchkreuzen und zusammen eine Atemlosigkeit entwickeln, die dem Roman eine sehr eigene Spannung verleiht. Bis hin zum rätselhaften Schluss, als die Leinwand verbrannt ist und als zerrissenes Polaroid ihrer selbst (oder von Singer oder von dem Bild, das Singer darstellt) weitererzählt, bietet Otten ein verstörendes Spiel dar, das in der besten Tradition spät- und postmoderner Literaturexperimente steht und sich in seiner ironischen Selbstdistanzierung von allen avantgardistischen Zwängen als ein Produkt der Gegenwart präsentiert.
Mit einem Buch für den schnellen, einfachen Konsum hat man es jedenfalls nicht zu tun. Ottens Stil lebt von der Aussparung, sein Erzählen lässt alle Anstrengung vermissen, die Versuchsanordnung, auf der es beruht, zu überspielen. So wird der Kontakt zwischen Text und Leser zu einem brüchigen und stets gefährdeten Rahmen, in dem sich das Werk selbst ebenso stark entzieht, wie es das Interesse an seiner Vollendung immer wieder von neuem anzieht. Wer sich noch dafür interessiert, was Literatur als Experiment von Sprache und Imagination zu leisten vermag, für den ist "Specht und Sohn" eine Entdeckung.
CHRISTIAN SCHÄRF
Willem Jan Otten: "Specht und Sohn". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Breunigen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 174 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main