Nachdichtungen wie die des berühmten "romance del prisionero" brachten zu Beginn des 19. Jahrhunderts spanische Gedichtformen in deutscher Sprache zum Florieren; ein Phänomen, dessen Höhepunkt Brentanos "Romanzen vom Rosenkranz" waren. Von der Entwicklung der spanischen Dichtkunst in den folgenden zweihundert Jahren ist die deutsche Sprache jedoch seither, abgesehen von Ausnahmen wie dem Werk García Lorcas, häufig ausgeschlossen geblieben. Erst in allerjüngster Zeit wurden Klassiker der Moderne wie Luis Cernuda oder Antonio Machado übersetzt.
Welch schmerzlichen Verlust dieser Mangel bedeutet, läßt die kleine zweisprachige Anthologie "Poemas españoles - Spanische Gedichte vom 15. bis zum 20. Jahrhundert" erahnen. Ausgehend von der Romanzendichtung des Spätmittelalters über die großen weltlichen und mystischen Dichter der Renaissance wie Garcilaso de la Vega und die heilige Therese von Ávila, erhalten wir zunächst einen Einblick in die erste Blütephase der spanischen Dichtung, die in der majestätischen Sonettkunst des Siglo de Oro im 17. Jahrhundert gipfelt. Dadurch werden nicht zuletzt die eminenten lyrischen Qualitäten der hierzulande eher als Prosa- und Theaterautoren bekannten Dichter Cervantes, Calderón de la Barca und Lope de Vega faßbar.
Den anderen Schwerpunkt der Sammlung auf dem Weg in die Gegenwart bildet das zweite "goldenen Zeitalter" der spanischen Dichtung zu Beginn des 20. Jahrhunderts: der von lateinamerikanischen Autoren wie Rubén Darío beeinflußte Modernismo um Juan Ramón Jiménez sowie die beiden Avantgardebewegungen der "Generation von (18)98" und der "Generation von (19)27". Auf wenigen Seiten komprimiert die Anthologie einen literarischen Schatz, der zum Größten gehört, was die abendländische Dichtkunst hervorgebracht hat.
Daß die unter Mitarbeit dreier renommierter spanischer Autoren getroffene Auswahl von Erna Brandenberger weitgehend auf Experimente verzichtet und daher ein wenig wie aus dem Lesebuch für spanische Oberschüler wirkt, kann mangels vergleichbarer deutscher Publikationen jüngeren Datums kaum Ärgernis erregen. Sehr wohl aber die editorische Lieblosigkeit der Ausgabe. Die deutsche Übertragung der Herausgeberin verzichtet gänzlich auf die Nachbildung der gerade für die klassische Dichtung so ungemein wichtigen Vers- und Reimformen und liefert daher nicht viel mehr als eine Verständniskrücke ohne den eigenen dichterischen Reiz, den Schlegel, aber auch Übersetzer jüngeren Datums wie Werner Vortriede oder Susanne Lange zu wecken wußten. Ohne jegliche Einführung wird die Leserschaft mit dem Hinweis abgespeist: "Auskünfte zu Auswahl und zur Übersetzung gibt es im Internet: www.dtv.de."
Zur (Des-)Orientierung des Lesers dient allein der ebenso banale wie falsche Klappentext: "Die Themen der spanischen Lyrik sind die Themen aller Lyrik: die Liebe und der Tod." Weit gefehlt. "Ewiges Leben träumen, wo die Seele / zur reinen Blüte würde": Glücklicherweise sind große Dichter wie Miguel de Unamuno in der Lage, durch die Kraft ihrer Worte solche Gemeinplätze Lügen zu strafen.
FLORIAN BORCHMEYER
"Poemas españoles - Spanische Gedichte vom 15. bis zum 20. Jahrhundert". Auswahl und Übersetzung von Erna Brandenberger, unter Mitwirkung von Arturo del Hoyo, Manuel Jurado und Jaime Siles. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004. 180 S., br., 9,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main