vielen Basisperspektiven sozialdemokratischer Männer und Frauen verbunden werden, die aus unterschiedlichen Lebenswelten stammten. Die hohe Komplexität und innere Widersprüchlichkeit der in sozialdemokratischen Milieus geführten Debatten über Religion, Christentum und Kirchen werden gut sichtbar.
Religion als mentale Macht und die Kirchen als gesellschaftliche Akteure spielten in den Selbstverständigungsdebatten der Sozialdemokraten eine zentrale Rolle. Elemente der populären Religionskritik, der zufolge religiöser Glaube "falsches Bewußtsein" sei, wurden mit soziologischen Beschreibungen der Kirchen als Herrschaftsagenturen der Obrigkeit verknüpft. In Texten der einfachen Leute findet sich viel Pfaffenschelte, galten Geistliche doch als Apologeten des Status quo. Zugleich wurden christliche Überlieferungsbestände für politische Zwecke konstruktiv angeeignet. Mit Beispielen aus der Christentumsgeschichte verkündigte man gegen die Amtskirchen ein besseres Tatchristentum gelebter Solidarität. Andere sozialdemokratische Kirchenkritiker predigten den liberal-bourgeoisen Wissenschaftsglauben, daß christliche Frömmigkeit kulturfeindlich sei und Gebildete im alten Glauben nur Märchen von gestern sehen könnten. Hier profilierte sich die Sozialdemokratie als "Partei der Moderne", die fortschrittsfrohe Menschen ins aufklärerische Licht führt.
Auch sozialdemokratische Kinder fragen nach Moral, Schicksal und Lebenssinn. Genossen können krank werden und müssen eines Tages sterben. Deshalb sah sich "die Partei" gezwungen, parallel zur populären Religionskritik religiöse Symbolsprachen konstruktiv aufzugreifen. Prüfer schildert ein faszinierend breites Spektrum sozialdemokratischer Alltagsfrömmigkeit. Ganze Ortsgruppen der Arbeiterparteien engagierten sich für die Freireligiösen, und einflußreiche Funktionäre wollten die politisch-sozialen Ziele mit Religionsreform verknüpfen. Die Partei sollte zur Avantgarde einer ganzheitlichen "Lebensreformbewegung" auf religiöser Wertbasis werden. Diese "neue Religion" wurde mit christlichen Symbolen entworfen. Jesus, der Zimmermannssohn, avancierte zum ersten Sozialisten, der das Himmelreich auf die Erde holen wollte, und der Sozalismus zum wahren Christentum. Die halb politisch-säkularen, halb religiös-rituellen Beerdigungen der Sozialdemokraten zeigen, daß für viele Parteimitglieder der Sozialismus zu einer quasireligiösen Deutungsmacht für Sinnorientierung geworden war.
Läßt sich der sozialdemokratische Religionsdiskurs als "politische Religion" deuten? Prüfer lehnt dies mit schwachen Argumenten ab. Doch charakterisiert er die Stellung der Arbeiterparteien zur "religiösen Frage" selbst als politische "Transformation von Religion". Ein sozialdemokratischer Lokalredakteur bezeichnete den Sozialismus 1889 als "glaubenslose Religion". Dies ist eine hilfreiche Selbstbeschreibung: Wer sich den Himmel ins Diesseits holt, schränkt fürs Jenseits die Wahlchancen ein. Im himmellosen Jenseits bleibt den Menschen nur die Hölle. Einzelne sozialdemokratische Religionstheoretiker sahen diese Aporie und entwickelten eine komplexe Symbolik zweier Himmelswelten. Ihre Spezialmetaphysik eines doppelten Himmels, der im Diesseits schon anbricht, aber auch im Jenseits Wohlbehagen verheißt, war auf Arbeiterparteitagen aber nicht mehrheitsfähig.
FRIEDRICH WILHELM GRAF.
Sebastian Prüfer: "Sozialismus statt Religion". Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 152. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002. 391 S., br., 42,- [Euro].
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