ist Popitz, korrekt gesprochen, ein Normentheoretiker. Das Gemachte sozialer Ordnungen zu beschreiben ist für ihn nicht unbedingt ein subversives Unternehmen. Popitz hielt Normen nicht schon deshalb für Mumpitz, weil sie nicht vom Himmel gefallen sind.
Er fand es vielmehr aufregend, das Innerste des Menschen, seine geistigen Orientierungen möglichst weitgehend mit Äußerlichkeiten zu erhellen - mit den sozialen Umständen, in denen einer steckt, mit den biologischen Umständen auch (Heinrich Popitz war kein Verächter von Konrad Lorenz). Weit davon entfernt, ein Reduktionist zu sein, erkannte er doch den methodologischen Rang des Reduktionismus, seine reinigende, ernüchternde Kraft, die gegen angemaßte Geltungsansprüche gefeit macht. Muß man da eigentlich noch eigens sagen, daß Popitz sein soziologisches Unternehmen aus einem genuin philosophischen Interesse betrieb?
Wir haben es mit einem Meister der kleinen Form zu tun, mit einem gut lesbaren Schriftsteller, der um der Verständlichkeit willen seine Texte oft reformulierte. Sein zentrales normentheoretisches Buch "Phänomene der Macht" hat er durch mehrere feingeschliffene Aufsätze ergänzt und erläutert. Es sind zum Teil an entlegener, schwer auffindbarer Stelle publizierte Texte, die jetzt der Suhrkamp-Verlag verdienstvollerweise in einem eigenen Band zusammengetragen und veröffentlicht hat. Machen Sie die Probe auf den Popitz! Blättern Sie in dieser kleinen Aufsatzsammlung. Lesen Sie "Über die Präventivwirkung des Nichtwissens", schmökern Sie sich durch die Essays "Realitätsverlust in Gruppen" oder "Das primäre soziale Gehäuse". Sie werden sich und Ihre Lieben fortan mit anderen Augen sehen, werden die Natur des Sozialen besser verstehen: deren atemberaubendes Schwanken zwischen Zufall und Notwendigkeit.
Verharren wir als Kostprobe für einen Moment bei dem Aufsatz "Realitätsverlust in Gruppen". Was für ein profunder Blick auf ein Leben, das sich von seinen Gegebenheiten derart gefangennehmen läßt, daß es zu einer "Erwartungsvereisung" kommt. Statt Erfahrungen sprechen zu lassen, werden Enttäuschungen nach dem Skript der uns beherrschenden Gruppe so verbogen, daß sie uns nicht mehr enttäuschen: "Alles, was passiert, bestätigt dann, was man ohnehin weiß. Das ist das Ende des Vermögens, aus neuen Erfahrungen neue Konsequenzen zu ziehen, das Ende aller Lernfähigkeit." Das Autoritätskonzept, das Popitz zu denken gibt, ist nicht das von außen durchgesetzte (geschenkt!), sondern das unmerklich von innen assimilierte - dergestalt, daß "die Anerkennung durch andere für den psychisch Gebundenen zum Faden wird, an dem sein Selbstwertgefühl zur Gänze hängt".
Nein, Popitz will uns nicht etwa bange machen vor den Leuten, mit denen wir in group tagtäglich zu tun haben und an deren Anerkennung uns liegt. Er will uns nur bange machen vor einem übertriebenen Gefühl, Herr im eigenen Haus zu sein. Wir sind allenfalls ein Herrchen, sagt Popitz. Wird doch die Aussicht, wir könnten in den Gruppen, in welchen wir verwurzelt sind, Anerkennung verlieren, nicht selten "wie ein Gang ins Nichts empfunden und gefürchtet, wie ein gänzliches ,Aus-der-Welt-Fallen'". Mit der Autonomie ist es also nicht weit her. Man ist nie höriger, als wenn man erwartet, autonom zu sein. Die Selbstbestimmtheit, auf die wir uns im Leben wie im Sterben so viel zugute halten mögen, ist in des Alltags Hitze eine gruppenabhängige Variable. Auf diese und andere Schwachstellen der menschlichen Natur kühlt uns Popitz' starkes Büchlein herunter.
CHRISTIAN GEYER
Heinrich Popitz: "Soziale Normen". Hrsg. von Friedrich Pohlmann und Wolfgang Eßbach. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 269 S., br., 11,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main