römisch numerierte zwölfte Absatz dieses Artikels las sich so: "XII. Und wenn ein Theaterchen schon führerlos ist - was will das bedeuten."
Es war der letzte Absatz und der letzte Satz der letzten Theaterkritik, die Alfred Kerr fürs Berliner Tageblatt schrieb, bevor er über Prag nach Paris fliehend emigrierte. Selten fiel die Pointe einer Kritik so als schrecklich und bitter wieherndes Kalauer-Geschenk einer Zeit in den Schoß, sozusagen als zufällige Notwendigkeit. Denn Hitlers, des Bildermalers Machterschleichung am 30. feierte Kerr, der sie am 29. schrieb, ohne vom 30. wissen zu können, mit der Rezension eines harmlosen Stückchens um Erbschleicherei und Bilderhandel. Wobei er einmal auch forderte: "Deutsche Dramatiker, lernt das Handwerk, damit ihr Weltgeltung bekommt" - während sie in Zukunft eher Schwulst (ohne Weltgeltung) lernten.
So läuft der Kritiker gegen seine Zeit. Weil er sich nicht auf die Zeit konzentriert, sondern auf sich selbst. Als Mitläufer wäre er im Diskurs mitgeschwommen, den andere angezettelt hätten: im Debatten-Feuilleton. Kerr debattierte nicht. Er ließ sich nicht mit anderen verrechnen. Er schrieb auf eigene Rechnung. Er führte nicht aus. Er dampfte ein, verknappte. Und sagte, was zu sagen war. Von ihm aus.
Er sei "tapfer" und "keck" gewesen, und erst im Abstand von den "relativ nahen zwanziger Jahren und ihren Kämpfen" spüre man, wie "einsam, gescheit und groß" er gewesen sei. Die Intellektuellen unserer Nation hätten "verdammt" viel bei ihm "nachzuholen, zu lernen, zu bewundern und sich zu eigen zu machen". Leider würden sie es nicht tun, denn eine zugängliche Gesamtausgabe seiner Schriften existiere nicht, sie werde auch nirgendwo vorbereitet. Diejenigen, die ihn "abschreiben, ausschreiben" wollten, weil sie seine längst vergriffenen Bücher zufällig besäßen, könnten dies also fast gefahrlos tun. "Und ein neuer Kerr, der ihnen dabei streng auf die Finger schaute, ist nicht in Sicht."
Das schrieb 1980 der Kritiker Joachim Kaiser über den Kritiker Alfred Kerr im immer noch wertstoffhaltigen Sammelband "Journalisten über Journalisten". Jener Kaiser, der seine Kritiken (Klavier, Musik, Theater, Literatur, Klavier, Klavier, Klavier) im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" hie und da römischziffrig zu unterteilen sich traut: also cum I., II., III. etc. Und also den Kerr wenigstens formal "abschreibt, ausschreibt". Aber ansonsten Kaiser bleibt. Kein Kerr.
Letzterer aber ist jetzt in Sicht. Nicht als neuer, jedoch als alter neu. Denn bisher war Kerr ein Monument, auf das man gerne schaute, das aber nirgendwo mehr richtig stand. Seine Kritiken kamen selektiert auf uns: zuerst von ihm selektiert, redigiert und zurechtgestutzt, längst vergriffen; dann im einen oder anderen dürftigen Sammelband, ebenfalls vergriffen. Man bekam nur Splitter vom Monument zu fassen. Jetzt endlich sind Kerrs Theaterkritiken vollständig gesammelt und zwischen Buchdeckeln gepreßt zu haben und zu bestaunen: in Originalfassungen, so wie sie in den Zeitungen, für die Kerr schrieb, erschienen sind. Nach dem ersten Band ("Ich sage, was zu sagen ist"), der die Kritiken von 1893 bis 1919 umfaßt (F.A.Z. vom 19. Dezember 1998), liegen nun in einem zweiten Band die Rezensionen von 1919 bis 1933 und aus dem Exil vor - bis zur letzten für Erich Kästners "Neue Zeitung" am 29. September 1947.
Der neue Band heißt "So liegt der Fall". So nennt ihn der Herausgeber. Und was der Herausgeber Günther Rühle da auf 959 Seiten im ersten und auf 1061 Seiten im zweiten Band an Sammel-, Spür-, Kommentar- und Editionsarbeit geleistet hat, das verdiente, daß der alte Kerr jetzt zu kalauern gehabt haben würde: "Über allen Gipfeln ist Rühle!"
Nun also liegt der ganze Kerr uns vollständig vor, und nun kann nachgefragt werden, was da "nachzuholen, zu lernen, zu bewundern" wäre. Nachzuholen: nichts. Zu bewundern: viel. Zu lernen: alles.
Nicht nachzuholen: der Kämpfer Kerr, der für Hauptmann, gegen Brecht, für Brahm, gegen Reinhardt, für Toller, gegen Hasenclever, für das Zeitstück mit der "richtigen Tendenz", gegen das Zeitstück mit der "falschen Tendenz", für flache Stücke, die gegen die Folter andichteten, gegen flache Stücke, die für die Folter waren, Partei nahm. Überhaupt also nicht nachzuholen: der Parteivorsitzende Kerr. Da versteht sich viel von selbst, und manches versteht man gar nicht mehr: seine blinde Liebe zu Wedekind, sein Auf-dem-Bauch-Liegen vor Hebbel. Vieles grüßt aus der Versenkung. Auch wenn er in der Versenkung gleichsam im Sauseschritt vorwärts stürmt.
Zu bewundern aber: der Dichter Kerr. Der Künstler. Gerade weil er da nicht nachzumachen ist, nur zu parodieren wäre, bleibt er in seinem Stil: im Ewigkeitszug. Schließlich hat er - nach eigenen Angaben - den Expressionismus erfunden. Sein Ich wirft er vor Ausrufezeichen und zwischen Gedankenstrichen (voller ungestrichener Gedanken!) und hinter lauter "Ecco!" in die Waagschalen. So bringt er sich ein auf der Wippe, auf der es immer um Sein oder Nichtsein geht. Um sein Sein, sein Nichtsein.
Er delegiert nichts: weder an den Zeitgeist oder an "Entwicklungen" oder an andere faule Dritte. Immer steht allein seine Sache auf dem Spiel - und wenn sie das auf der Bühne nicht tut, dann ätzt er: "Nun: das Stück ist sowieso unmöglich. Wird es durch den Alltagston möglicher? Es wird unmöglicher." (Dabei geht es um Shakespeare, "Othello", 1932.) "Und deshalb muß auch die holde Desdemona . . ." (Absatz) "III. Sie ist nicht hold. Sondern kommt vom Kurfür -, ähh, Dogendamm; mindestens von der Piazzettas-Jause. Mit echt-venezianischem, rotschimmerndem Gesellschaftshaar. Desdemonalisa?"
So ungefähr ging das. So kann, darf, muß man heute nicht mehr schreiben. Deshalb aber bleibt es. Ein Beispiel. Für eine unerreichte Kunst.
Zu lernen also wäre von ihm: sein Wahlspruch "Aude sapere"; und sein Ausdrucksziel "Das Knappere".
GERHARD STADELMAIER
Alfred Kerr: "So liegt der Fall". Theaterkritiken 1919-1933 und im Exil. Hrsg. von Günther Rühle. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2001. 1061 S., geb., 128,- DM.
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