Traum des Firmengründers Werner von Siemens geworden, der aus einer mit großen Startschwierigkeiten kämpfenden Hinterhofwerkstatt an der Schöneberger Straße 19 zu Berlin ein Weltgeschäft à la Fugger machen wollte? Ist die vom Firmengründer zu Lebzeiten vorgegebene Devise "Ausrichtung auf die Elektrotechnik im ganzen Umfang" immer noch aktuell? Was ist von den alten Siemens-Werten im Zeitalter der Globalisierung und Finanzmarktorientierung geblieben? Diese Fragen ziehen sich durch das gesamte Buch.
Die Autorin skizziert Erfolge und Rückschläge in der 155jährigen Siemens-Historie und läßt dabei auch Sündenfälle in dunklen Phasen der deutschen Geschichte nicht aus, stellt diese aber nicht in den Mittelpunkt. Zur Erschließung des Elektrokonzerns und der Siemens-Kultur wählt sie einen originellen Ansatz: Zu Beginn der zehn Kapitel läßt sie gezielt ausgewählte Menschen - unter anderen Vorstandsvorsitzende, Pförtner, Ingenieure, einen Turbinenbauer, einen Analysten und den Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrates - zu Wort kommen. Die porträtierten Mitglieder der Siemens-Familie skizzieren ihre subjektive Sicht des Lebens mit und für "ihr" Unternehmen und bieten gerade dadurch interessante Einblicke in das Innenleben des Konzerns, die sich dem Leser der offiziellen und vielfach redigierten Pressemitteilungen üblicherweise nicht offenbaren.
Im Mittelpunkt des Buches steht die Analyse der dramatischen Veränderungen der neunziger Jahre, die Siemens wie nie zuvor durchgerüttelt haben und die Veränderung zur Konstante haben werden lassen. Die Liberalisierungswelle, die Öffnung der abgeschotteten Märkte, aber auch der immer größer werdende Einfluß der Finanzmärkte auf die Großunternehmen stellten die Spielregeln, die Siemens als einstiger Hoflieferant von Bahn und Post perfekt beherrschte, völlig auf den Kopf. Der Anpassungsprozeß gestaltete sich zäh, zumal Abschied genommen werden mußte von liebgewordenen Vorstellungen wie "Einmal Siemens, immer Siemens". Bezeichnenderweise wird ein Vertrauter des Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer mit dem Satz zitiert: "Wir haben uns nicht vorgestellt, daß der Kulturwandel so lange dauert."
Beim Hinterfragen der Beharrungskräfte kommt die Autorin zu der Erkenntnis, daß die Gewinne bei Siemens zu lange zumindest vordergründig gestimmt hätten dank guter Finanzresultate. Die eigentlich schon erkennbaren Defizite im Kerngeschäft seien so übertüncht worden. Diese komfortable Situation habe dazu geführt, daß Quersubventionierungen zwischen den verschiedenen Unternehmensbereichen, gegen die sich Pierer in jüngster Zeit mit Vehemenz wehrt, an der Tagesordnung gewesen seien. Unter den Managern habe zudem eine Art Nibelungentreue geherrscht. So sei es über Jahrzehnte hinweg verpönt gewesen, Kritik zu äußern und nach eklatanten Managerfehlern rasch die erforderlichen personellen Konsequenzen zu ziehen.
Unter dem Druck des Margen- und Preisverfalls sei in den neunziger Jahren ein radikaler Wandel erforderlich geworden, der immer noch nicht abgeschlossen sei. Hierbei habe es Erfolge, aber auch manche Rückschläge (zum Beispiel das Nixdorf-Debakel) gegeben. Kenntnisreich berichtet die Autorin vom Scheitern des hochgelobten TOP(Time Optimized Processes)-Programms, das viel Geld gekostet habe, dennoch nicht über kosmetische Operationen hinausgekommen sei und den erforderlichen Kulturwandel bei den in der alten Siemens-Denkweise verhafteten Führungskräften nicht herbeizuführen vermocht habe. Andererseits stellt sie die positiven Effekte des 1998 gestarteten und inzwischen abgearbeiteten Zehn-Punkte-Programms vor. Ausführlich geht die Verfasserin auf die Katerstimmung ein, die Siemens nach dem Champagner-Jahr 2000 ereilte und zu heftigen Verwerfungen führte.
Viel Raum wird dem Wandel von Siemens von einem Pionier der Technik zu einem Unternehmen gewidmet, das auch den Börsenkurs und die positive Einschätzung der Anleger als strategisch relevantes Thema erkennen mußte. Decurtins meint, Siemens sei mutiert zu einem leistungs- und stärker finanzmarktorientierten Unternehmen, das sich allerdings zumindest bisher nicht blind, sondern unter Wahrung der zentralen Werte der Siemens-Kultur wie Kontinuität und finanzielle Solidität dem Diktat der Börsen und Analysten gebeugt habe. Die breite Aufstellung hinsichtlich der Geschäftsfelder sei zumindest bislang nicht dem kurzfristigen Renditedenken geopfert worden, getreu dem Grundsatz des Firmengründers: "Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht." Siemens sei trotz des starken Wachstums im Ausland im Kern ein deutsches Unternehmen geblieben - zumindest bisher.
Das Buch ist alles andere als eine langweilige Chronik. Es liefert den Beweis, wie spannend Unternehmensgeschichte sein kann. Dennoch: Von einer Autorin, die soviel Insider-Kenntnisse hat, hätte man sich eine Einschätzung der weiteren Entwicklung gewünscht. Ist das, was zur Zeit bei Siemens an Einschnitten stattfindet, der Preis, der gezahlt werden muß, damit der Traditionskonzern wieder zu neuen Höhenflügen ansetzen kann? Bildet sich eine neue Kultur heraus, die für Mitarbeiter und andere "Stakeholder" die Sinnfrage überzeugend beantwortet und Vertrauen schafft? Diese Fragen bleiben offen, wenn auch auf den letzten Seiten anklingt, daß Siemens ähnlich wie amerikanische Konzerne in jüngster Zeit erste Trippelschritte unternommen hat, um als guter "Corporate Citizen" gesehen und geschätzt zu werden - als Konzern, der sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt engagiert.
ROBERT FIETEN
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