Die zum Teil ganz ausgezeichneten Beiträge führen aus unterschiedlichen Blickpunkten in eine schwierige Materie ein. Bewusst werden die Texte nicht als deutsch, sondern als deutschsprachig bezeichnet - sie sind überwiegend von den Opfern oder deren Nachfahren geschrieben; von den sechzehn besprochenen Autoren sind nur Rolf Hochhuth und Günter Grass Deutsche, die anderen sind Juden oder zumindest jüdischer Abstammung. Zunächst wird die Schoa-Literatur in verschiedenen Konstellationen vorgestellt: historisch in Überblicken zur Frühzeit vor 1950 (Stephan Braese) oder zur sogenannten zweiten Generation und ihrem von den Eltern ererbten Trauma (Hartmut Steinecke); thematisch vom Einfluss fremdsprachiger Schoa-Texte auf den deutschen Diskurs (Sven Kramer) bis hin zur Kinder- und Jugendliteratur über die Hitlerzeit (Rüdiger Steinlein). Die Beiträge entwickeln dabei immer eine überzeugende These und gehen weit über bloße Kompilation hinaus.
Aufschlussreich ist zum Beispiel der Vergleich zwischen Bundesrepublik und DDR. In Westdeutschland wurde Adornos Diktum gegen Gedichte nach Auschwitz bestimmend; Michael Hofmann schreibt dazu: "Die Autonomie der Kunst und der Literatur, die im achtzehnten Jahrhundert in der Wendung gegen den Feudalismus und Absolutismus eine legitime Funktion hatte, führte im zwanzigsten Jahrhundert zu einer unerträglichen Koexistenz zwischen kultureller Hervorbringung und Barbarei." Im Westen fielen daher die Toten von Auschwitz auch nach dem Krieg noch der Dialektik der Aufklärung zum Opfer, in der DDR dagegen gab es keine Autonomie der Kunst; hier wurden die Toten anders verunglimpft. "Die Engführung von Antisemitismus und Kapitalismus/Imperialismus", schreibt Norbert Otto Eke, führte zur Unterscheidung innerhalb des heroischen Widerstands "der kommunistisch-antifaschistischen Kämpfer, deren Vermächtnis die DDR für sich in Anspruch nahm. Die Hierarchisierung der Opfer, die (nicht allein) die Juden hinter der symbolischen Konstruktion verschwinden ließ, ermöglichte erst die legitimatorische Heilsgeschichte des Sozialismus" - und damit auch die Selbstentlassung aus der deutschen Verantwortung, die in der DDR üblich war. An dem Band sind international bekannte Germanisten beteiligt, unter ihnen der Amerikaner Sander L. Gilman, Hans Otto Horch, der in Aachen die einzige Professur für deutsch-jüdische Literatur in der Bundesrepublik innehat. Dort lehrt auch Axel Gellhaus, der an der Celan-Werkausgabe beteiligt ist und in seinem Beitrag über das Frühwerk des Dichters schreibt. Er geht unter anderem auf die Gründe ein, weshalb Celan seine "Todesfuge" später nicht mehr vorgetragen hat: "Der radikalen Selbstbeobachtung der poetischen Sprache Paul Celans ist es zu verdanken, dass sie sich zu einem Instrument der Destruktion nicht nur ihrer eigenen Artifizialität, sondern auch der Dialyse von Kulturmetaphern und Totalitätsansprüchen fremden Denkens eignet." Neben anderem ist hier Celans Auseinandersetzung mit Heidegger gemeint; ein weiterer Hinweis darauf findet sich in Jens Birkmeyers Beitrag zu Elfriede Jelinek. "Auch das Andenken an die Toten, das nie ein reines Andenken sein kann, weil es Vergessen fordert", zitiert er ihre Parodie auf Heideggers Eigentlichkeitsjargon. Der Text steht in ihrem Prosastück "Totenauberg", eine Anspielung auf die ländliche Hütte des Philosophen bei Todtnauberg im Schwarzwald, die einem Gedicht Celans seinen Titel gegeben hat.
Bei Robert Schindel arbeitet Hartmut Steinecke ein anderes Echo auf das Werk Celans heraus. Die kommunistische Familie kehrte nach bereits gelungener Flucht wieder nach Österreich zurück, um dort am Widerstand teilzunehmen; Schindels Vater wurde noch in den letzten Kriegstagen in Dachau ermordet. Der schon bei Eke thematisierte Gegensatz von kommunistischer und jüdischer Erinnerung bestimmt die Biographien vieler deutschsprachiger und anderer Autoren - Becker und Biermann, Sperber -, und auch bei Schindel lässt sich eine späte Hinwendung zum Judentum beobachten. "Deine Gedichte werden immer jüdischer / Sagen mir die Leute und lächeln", zitiert Steinecke und formuliert Schindels poetologische Leitfrage: "Wenn wir Celan als Überlebenden und seine Lyrik als den ,zugespitzten sprachlichen Ausdruck einer unsagbaren, nicht mit dem Menschenherzen zu erfassenden Katastrophe' des jüdischen Volkes sehen, wie gehen dann ,wir, die Generation nach Celan' mit diesem Erbe und dieser Erinnerung um?" Es ist eine schwierige Frage, die alle Autoren der zweiten Generation betrifft. Auf deutscher Seite hat Bernhard Schlink ihr im "Vorleser" eine nicht unproblematische Antwort zu geben versucht; auf jüdischer Seite, nicht weniger problematisch, ist Maxim Biller ein Zeuge dafür. "Es ist der Kollaps eines Moralsystems, mit dem die meisten Figuren in Billers Erzählungen zu kämpfen haben", schreibt Karin Remmler über ihn. "Durch Sprachverwirrungen und -spiele einerseits und sexuelle Begegnungen und Phantasien andererseits finden die Protagonisten keinen Ausweg und keine Antwort." Von besonderem Interesse ist der Beitrag von Volker Neuhaus über Günter Grass. Der Sammelband ist vor der Selbstenthüllung erschienen und bietet daher die seltene Möglichkeit, noch einmal das frühere Bild eines Schriftstellers zu rekonstruieren: "Kein anderer Schriftsteller aus dem Land der Täter", schreibt Neuhaus, "hat die Shoah in derartigem Umfang zum beherrschenden Thema seines Werks gemacht wie Günter Grass." Schon der Titel belegt es. "Auschwitz als Zäsur und unheilbarer Bruch der Zivilisationsgeschichte": Es ist ein Satz aus der Frankfurter Poetik-Vorlesung, die Grass "Schreiben nach Auschwitz" genannt hat.
Neuhaus hält sein Versprechen. Zitate, nicht nur aus der "Blechtrommel", sondern auch aus anderen Romanen und besonders aus seinem Rückblick in "Mein Jahrhundert", belegen ein gewisses historisches Verantwortungsgefühl. Freilich ist Grass vor der Ironie des Schicksals nicht gefeit. Seinen Beitrag beendet Neuhaus mit einem Notat aus dem Jahr 1960. Unter dem Titel "Kleine Aufforderung zum großen Mundaufmachen" lesen wir dort, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung, die Gedichtzeilen: "Wer jene Fäulnis, / die lange hinter der Zahnpasta lebte, / freigeben, ausatmen will, / muss seinen Mund aufmachen."
JAKOB HESSING
"Shoah in der deutschsprachigen Literatur". Herausgegeben von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2006. 344 S., geb., 46,- [Euro].
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