Tochter Shylocks. Zu Shakespeares Zeiten gab es ja keine Juden in England. Er war auf kursierende Gerüchte und literarische Vorbilder, alle wohl negativ, angewiesen. Interessant ist, dass Shakespeare selbst in der berühmten Rede Shylocks, "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?", den Anfang einer Revision gemacht hat. Aber was ist bei Fussenegger daraus geworden! Ihr ist die glaubwürdigste Humanisierung und Historisierung der Judengestalten gelungen. Selbst das eitle, törichte Mädchen Jessica wird in ihren Händen beinahe zur tragischen Gestalt. So wie die jüdischen Figuren ins Menschliche gerückt werden, indem ihre elenden, von Verfolgungen gepeitschten Schicksale mitreflektiert werden, so muss sich die venezianische "jeunesse dorée" die ihr gebührenden Rügen, ja moralischen Verdammungen gefallen lassen. Aus der erhabenen Richterin Portia ist das glänzende Charakterbild einer schwankenden, letzten Endes ungerechten Gesellschaftsdame geworden. Der Verführer und Betrüger Lorenzo wird zum Abbild jener Verantwortungslosigkeit, die man heute mit dem Ausdruck "playboy" kennzeichnet. Ziemlich unangetastet, ja als eigentlicher "Held", geht sonderbarerweise Antonio hervor, eine Art ethischer Maßstab in dieser Novelle.
Auch sprachlich sind die Erzählungen wunderbare Gebilde: ein erlesenes Vokabular , wie es immerhin zu dieser Hochkultur in einem der Stadtstaaten Italiens passt, aber ohne jede Manieriertheit. Das Judenidiom ist nur angedeutet, den Dialog kann man förmlich hören. Selbst die Nebengestalten sind wertvolle, gut ausgeführte Miniaturen, wie zum Beispiel jener Timbal, eine ergreifende Erfindung, denn von Shakespeares Tubal hat er ja nur ein paar Buchstaben.
Die längste der Geschichten, hundertfünfundzwanzig von zweihundertdreißig Seiten, ist Anna, der frei erfundenen jüngeren Schwester Julias gewidmet, die im Schatten der Liebes- und Familientragödie zu einer reifen Frau heranwächst. Die verschiedenen Schauplätze, die sie durchläuft, sind meisterhaft geschildert: die Kindheit im heimatlichen, aber für sie stiefmütterlichen, in den Verderben bringenden Zwist der Montagus und Capulets getauchten Verona; die Jugend in einem Gemäuer, wo sie sich unter der Fuchtel einer geizigen, fanatisch religiösen Schlossherrin durchhungert und -friert; und schließlich als Ehefrau und Mutter in einem gesicherten Hafen, Genua: eine bunte Renaissance-Novelle, mit vielerlei Stilebenen, zum Beispiel auf der politisch-gesellschaftlichen in den Gesprächen hoch gestellter Persönlichkeiten, einem Bischof und einem weltlichen Regenten, die in ihrer diplomatisch-psychologischen Sprache, die im Gegensatz zu den spannenden Abenteuern der Zentralgestalt stehen.
Die dritte Erzählung in dieser Trilogie ist wieder in einem völlig anderen Stil geschrieben. Eine alte Shakespeare-Darstellerin spricht diese Novelle als Monolog. Sie hat sich dermaßen mit Ophelia identifiziert, dass sie zeitweise mit dieser Gestalt zusammenwächst und sich einbildet, als Zeitgenossin auf Hamlets dänischem Schloss gelebt zu haben, und dabei eine radikale Umformung der bekannten Handlung vornimmt, ohne Geistererscheinung, Brudermord und Thronusurpation. Wie wohltätig sind doch wirkliche Geschichten.
EGON SCHWARZ
Gertrud Fussenegger: "Shakespeares Töchter. Drei Novellen". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999. 231 S., br., 19,90 DM.
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