beschränkt. Ihn interessieren die handschriftlichen Zeugnisse "maßgeblicher Persönlichkeiten aus der Geschichte und Kultur des Westens seit 1500", wie er in seiner Einleitung schreibt.
Der Leiter der brasilianischen Nationalbibliothek besitzt heute rund dreißigtausend Handschriften. Sammler sind unersättliche Menschen. Eine kleine Auswahl seines Fundus, 350 Stück, hat do Lago für den vorliegenden opulenten großformatigen Bildband zusammengestellt und mit historischen Kommentaren zu jedem der abgebildeten Stücke versehen. Im Anhang findet man die Transkriptionen und die deutschen Übersetzungen.
Der Schriftsteller Stefan Zweig, der aus der untergegangenen Welt der Tintenfässer kam und selbst ein Sammler von Handschriften war, beschrieb einmal, warum ihm im Angesicht des Autographen ein Schauer über die Seele lief: "Jene geheimnisvolle Sekunde des Übergangs, da ein Vers, eine Melodie aus dem Unsichtbaren, aus der Vision und Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische tritt, wo anders ist sie ablauschbar, überprüfbar als auf den umkämpften oder wie in Trance hingejagten Urschriften der Meister?" Als sich die Genies an die Schreibmaschine setzen, zog sich die Urschrift zurück.
Das nebenstehend abgebildete Autograph, das zur Kategorie der ästhetisch anspruchsvollen Handschriften gehört, stammt von dem Schweizer Bildhauer Jean Tinguely (1925 bis 1991). In einem Café schrieb er auf einem Papiertischtuch einen Brief an den englischen Künstler Richard Hamilton. Er schrieb Französisch und Englisch. Der Brief lautet: "Lieber Richard Hamilton, danke für deinen Brief: Einverstanden mit Sonnabend (was ist mit Rosemarie?) Wenn ich nicht da bin, hinterlaß mir eine Nachricht, wo ich dich erreichen kann. Gruß: Jean Tinguely". Mehr erfahren wir nicht.
Andere Autographen in diesem Band stammen von Karl V., Rousseau, Rubens, Baudelaire, Darwin, Debussy, Mata Hari, Marcel Proust, Isadora Duncan, Strawinski, Miró, Borges, Walt Disney und so weiter - und im besten Falle, also wenn ein Brief vorliegt und der Brief interessant genug ist, schaut man, wenn man die Zeilen liest, wie durch ein ganz schmales Fenster in die damalige Zeit hinein. Auf diese Weise kommt man zu Madame de Pompadour, die schrieb, "daß durch die Räume von Versailles ein gewisser Milord Gordon läuft, der total verrückt ist . . . Es gibt keine Extravaganz, die er nicht begangen hätte. Ich sehe ihn nicht gern in der Nähe des Königs und hinter dem Dauphin, vor allem da er erklärtermaßen Geschmack daran findet, Menschenblut zu trinken . . ." Das Siegel des Briefes, auf dem die drei Türme ihres Wappens zu erkennen sind, leuchtet selber rot wie Blut. Zu den maßgeblichen Persönlichkeiten aus der Geschichte und Kultur des Westens zählen auch die Beatles, weshalb der Band mit einer signierten Fotografie der vier britischen Musiker schließt.
EBERHARD RATHGEB
Petro Corréa do Lago: "Schriftstücke. Autographen aus sieben Jahrhunderten". Mit einem Vorwort von Carlo Ginzburg. Aus dem Französischen von Eva Plorin. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2005. 288 S., zahlreiche Farb- u. S/W-Abbildungen, geb., 59,- [Euro].
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