der um Jahrzehnte jüngeren Dramaturgin, die zugleich eine kluge Leserin Foucaults ist, entsteht eine heftige Leidenschaft, die sie auf lange Wanderungen, in Konzertsäle und Opernhäuser, vor allem aber immer wieder in sonnenbeschienene Betten führt.
Schon in ihren früheren Romanen und Erzählungen hat die 1929 geborene Helen Meier gern die vielfältigen Nuancen menschlicher Leidenschaften beschrieben und dabei stets liebevolle Sorgfalt für die Stillen, Unscheinbaren, Alten bewiesen. Mit diesem Buch aber geht die Erzählerin, die mit den Jahren immer kompromißloser in der Wahl ihrer Sujets geworden ist, mehr als je zuvor über gesellschaftliche Konventionen hinaus, und das gelingt ihr über weite Strecken mit großer Stilsicherheit. Für die erotische Begegnung der beiden Frauen findet sie deutliche Worte, ohne je ins Obszöne oder Derbe zu geraten. Nur manchmal scheint das Pathos der Leidenschaften auch die Erzählerin mitzureißen, und wir glauben beim Lesen stimmungsvolle Hintergrundmusik erklingen zu hören: "Celestinas Zunge, wunderbar beweglich, Zungenkraft, Speichelsaft, weiche Fluten netzten, schwellten Noras Lippen, die kleine Knospe der Lust schwoll, überschwemmte platzend ihren Beckenraum, Nora zerging in wundersam erlöster Ohnmacht ganzen Leibes." Der Himmel auf Erden scheint nah.
Helens Meiers Erzählung ist aber auch eine Erkundung des Alters und des Alterns. Nora hat es sich zur Aufgabe gemacht, alte Menschen darüber zu befragen, wie sie das "immer schnellere Wegrutschen ihrer Tage" empfinden. Es sind vor allem Künstler und Intellektuelle, die von ihr besucht werden; Helen Meier bleibt also, wie schon bei der Wahl ihrer Protagonistinnen, im vertrauten Milieu. Geldsorgen oder die Angst, als Pflegefall in einem Heim zu enden, scheinen diese Alten nicht zu kennen. Dennoch zeigen sich längst nicht alle von Noras Gesprächspartnern versöhnt mit dem allmählichen Schwinden ihrer Kräfte. Der verbitterte, einst berühmte Maler, der von den Jungen nicht mehr gekannt wird, oder die scharfzüngige Schriftstellerin, die ihr lädiertes Gesicht hinter einer Stoffmaske versteckt und als letztes Vergnügen im Keller lustvoll altes Geschirr zerschmeißt - in ihnen zeichnet Helen Meier zynische Kontrastfiguren zu ihrer liebenden Nora, die die Verbindung mit der Jüngeren auch als Möglichkeit erlebt, "die Unterernährung ihres Gehirns zu beenden".
Doch auch Noras große Liebe findet ein Ende. Sind es die nachlassenden Hormone, wie sie selbst einmal vermutet, oder ist es einfach der Lauf der Welt, daß keiner Lust die Ewigkeit gegönnt ist, nach der sie doch so sehr verlangt? Wie auch immer: Aus der Zweisamkeit wird allmählich eine Dreiecksgeschichte, und daß Celestinas neue Liebe ausgerechnet den sprechenden Nachnamen Kleeblatt trägt, ist denn doch ein bißchen viel Symbolik. Überhaupt wird das schmale Buch, dessen Anfang so bewundernswert straff erzählt ist, in seiner zweiten Hälfte etwas geschwätzig und gerät in bedenkliche Nähe zu einer wohlmeinenden Ratgeberliteratur, die für alle erdenklichen Lebenslagen passende Maximen bereithält, aus jeder Katastrophe noch einen Nutzen zu ziehen weiß und beruhigend versichert, daß das Altern kein Unglück ist.
Am Ende hat die enttäuschte Nora ihre Eifersucht jedenfalls überwunden und sich mit dem Abschied von ihrer vermutlich letzten Liebe versöhnt. Geradezu abgeklärt wirkt der letzte Satz, der die ehemalige Bibliothekarin zurück zu den Büchern und fort von der Vergangenheit führt: "Das Suchen von Geschriebenen - würde das nochmals die Zukunft sein?" Eine solche Wendung in die verläßliche Welt der Literatur klingt gewiß weise, aber sie nimmt der Geschichte dieser leidenschaftlichen Liebe leider auch viel von ihrer Provokationskraft.
SABINE DOERING
Helen Meier: "Schlafwandel". Eine Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 2006. 218 S., geb., 18,90 [Euro].
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