in dem Bators Roman spielt - sie selbst wurde dort 1968 geboren -, blieb jahrzehntelang von den Identitätszweifeln und Verlustängsten seiner neuen Zwangs-Bewohner geprägt.
Alles Deutsche, das sie vorfanden, erschien ihnen rätselhaft, unnütz und hässlich, es konnte den Verlust von Haus und Hof, von Familie und Freunden nicht wettmachen. Der späteren Sehnsucht nach dem Glanz und Duft des Westens gab das einen bitteren Beigeschmack, ebenso die wenigen Besuche geflohener jüdischer Nachbarn: Die saßen jetzt in Amerika und waren reich, hieß es. Sogar an ganz gewöhnlichen Wochentagen trugen sie Hüte!
Mit geschickter Hand lässt Joanna Bator alle Fäden der polnischen Geschichte und einer ehemals multiethnischen Gesellschaft in Walbrzych zusammenlaufen - in keinem aktuellen polnischen Roman erfährt man mehr und Genaueres über das skurrile und heimelige, trostlose und glückliche Leben in einer sozialistischen Provinzstadt: was die Menschen essen und was für Unterwäsche sie tragen, wonach sie sich sehnen und was aus ihren Träumen wird in einem auf Sand gebauten Alltag. Der in den sechziger Jahren auf den Abraumhalden der ortsansässigen Glashütten gebaute riesige Wohnblock "Piaskowa Góra" (so der Originaltitel), deutsch "Sandberg", verspricht alle Wünsche zu erfüllen, die ein Flüchtlingskind wie Stefan Chmura, der es Anfang der siebziger Jahre zum Bergmann gebracht hat, haben kann: zwei Zimmer, Küche, Bad, Zentralheizung - begeistert trägt er seine Frau Jadzia über die Schwelle, auch wenn das eigene Reich nur vierzig Quadratmeter groß ist. So gerührt ist er über dieses Geschenk, dass er dem Genossen Parteisekretär Gierek, zumal der ja auch Kumpel ist, ewige Treue schwört. Besinnungslos hält er dieses Versprechen und schuftet sich halb zu Tode, bis er merkt, dass sein Chef ihn auslacht, statt ihn zu befördern. Ab da ergibt er sich immer mehr dem Alkohol und verbringt seine Freizeit auf der durchgesessenen Couch vor dem Fernseher. Überhaupt kommen die Männer in diesem Roman nicht gut weg: Entweder sind sie geistig beschränkte Maulhelden, die ihre Gesundheit in albernen Macht- und Saufritualen ruinieren, oder abwesend. Das Motiv des falschen Vaters, hinter dem plötzlich ein anderer auftaucht, durchzieht den ganzen Roman und versinnbildlicht das Grunddilemma seiner Figuren: Wer hier lebt, hatte nie eine Heimat, oder sie existiert nicht mehr. Eine eigene Vergangenheit muss sich jeder erst erfinden.
Und hier kommen die Frauen ins Spiel. Sie sind die Unruhigen und Neugierigen, sie erzählen Familiengeschichten, auch die schmerzhaftesten: wie Jadzias Mutter von Soldaten vergewaltigt wird und deshalb ihre Tochter nicht lieben kann und warum die Urgroßeltern als Vergeltung für Partisanenanschläge ermordet wurden. Die Frauen müssen Schlange stehen, gegen den allgegenwärtigen Kohledreck anschrubben und soundso viele Abtreibungen aushalten. Trotzdem sind sie entschlossen und hartnäckig, im Krankenhaus schließen sie sich sogar zu einer übermütigen und innigen Clique zusammen. Als Karol Wojtyla Papst wird, legen sie "die Arme umeinander, aus denen die Kanülen staken, Brust an Brust und Bauch an Bauch schmiegten sie sich aneinander, ein Schlachtfeld der Wunden und Narben".
Dass nebenbei auch noch der Kommunismus zerbröselt, interessiert eher Jadzias Tochter Dominika, die schlaksige Lichtgestalt des Romans, mit ihrer dunklen Haut und dem widerspenstigen schwarzen Haar. "Zigeunerbalg" tuscheln die Nachbarn, und die blonde, pummelige Jadzia ist tief gekränkt, weil die Tochter weder Rüschen noch fettiges Essen mag und auch von keinem Ehemann aus Castrop-Rauxel träumt. Dafür träumt sie vom Davonfliegen, hoch über die Fördertürme und über einen Himmel, "den Chemikalienschmutz in Regenbogenfarben tauchte". In diesem immer schiefer werdenden Wohnblock mit seinen fünfzehn Aufgängen spiegelt sich nicht nur die polnische Gesellschaft mit ihren Intrigen und Zwangshandlungen, ihrer alltagstauglichen Religiosität und ihrer Liebe zu Kitsch und Kristall, sondern auch Abgründe an Einsamkeit, Verzweiflung und Hass. In den überbordenden Bildern dieses Romans werden die extremen Gefühle einer doppelt traumatisierten Gesellschaft bis an die Schmerzgrenze spürbar.
Nur manchmal wehren sich die Figuren gegen den äußeren Druck - dann platzen die Bild-Oberflächen auf und geben den Blick frei auf eine darunterliegende, magisch-anarchische Realität: Fenster bersten unter dem erotischen Sehnsuchtsgeschrei der Teenager, und die Dachterrasse, von der sich oft Selbstmörder stürzen, ist Basar, Liebesnest und fliegender Teppich in einem. Die darunter Wohnenden fühlen erstaunt den Sog, wenn er abhebt.
Deftig, wie in Olga Tocarczuks "Ur und andere Zeiten", und böse-sarkastisch, wie in Wojciech Kuczoks "Dreckskerl", ist dieser fulminante Roman erzählt, doch hat er eine verstörend genaue, politische und anthropologische Seite: Er zeigt die Welt als zerplatzten Luftballon, in dem Tod und Leben nur noch durch einen hauchdünnen Grat getrennt sind. Die allgegenwärtige Vergangenheit ist dabei eine genauso schwere Last ist wie die menschenverachtende Gegenwart. Deshalb flüchtet sich Dominika in die Mathematik, das einzig verlässliche Terrain, das sie kennt - doch genau in ihrer Begabung bricht die Familienlüge vom polnischen Großvater auf, der angeblich auf dem Feld der Ehre fiel. Wie in einem beklemmenden Vexierbild werden dahinter die Umrisse eines jungen jüdischen Mannes sichtbar, den die Großmutter im fünften Kriegsjahr vor dem Verhungern rettete.
Mit viel Sprachwitz hat Esther Kinsky die unterschiedlichen Tonlagen der Personen und die bissigen Seitenhiebe auf alle Selbstgerechten und Tumben übersetzt. Es ist gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet die verachtete Grazynka, die Kinder von drei Männern hat, gern tanzt und auf das Gerede der Leute pfeift, die zweite Lichtgestalt des Romans ist: Sie ist die Einzige, die ohne Ressentiments und feste Erwartungen auskommt und dabei leidenschaftlich improvisiert. Unerschrocken und leicht bewegt sie sich durch diese menschliche Trümmerlandschaft und reagiert am menschlichsten von allen.
NICOLE HENNEBERG
Joanna Bator: "Sandberg". Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 492 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main