genannt wird, hat heute Leser in allen Ländern und Sprachen.
Für die deutsche Sprachwelt muss Paul Celan genannt werden, der, wenn auch nur mit zehn Übertragungen, den Anfang machte. In den neunziger Jahren folgten Lola Gruenthal und Susanne Schaup. Werner von Koppenfels verdanken wir eine zweisprachige Ausgabe der "Dichtungen", die mit 300 Stücken ein Korpus des Schönsten und Wesentlichen umfasst.
Warum aber nicht die ganze Emily? Warum nicht ihr ganzer "letter to the World"? Schon ihre ersten Herausgeber hatten diese Zeilen als Motto vorangesetzt: "Dies ist mein Brief an eine Welt / Die niemals schrieb an Mich." Die Schweizerin Gunhild Kübler, eine Schülerin Peter von Matts, hat die Idee einer Gesamtübertragung über Jahre verfolgt. Die erste Realisierungsstufe war 2006 der Band "Gedichte, englisch und deutsch" mit immerhin sechshundert Stücken. Küblers Leistung wurde gerühmt: sowohl ihre beherzte poetische Übertragung als auch die auf amerikanischen Forschungen basierende chronologische Ordnung der Gedichte, die erstmalig die Entwicklung der Dichterin sichtbar machte.
Sehr verständlich, dass damit die Verlockung entstand, auch den Rest - noch einmal 1200 Gedichte - ins Deutsche zu bringen. Befeuert vom sprachlichen und philologischen Eros, hat Gunhild Kübler diese Anstrengung in den Folgejahren unternommen. Wir haben nun, nach insgesamt fünfzehn Jahren Arbeit, alle 1800 Gedichte zweisprachig beisammen; ein wahrer embarras de richesse. Man muss das schlicht bewundern. Freilich mischt sich in die Bewunderung für die pure Leistung der Übersetzerin unabweisbar die Frage nach Nutzen und Sinn des Ganzen. Welcher Leser soll das alles lesen?
Es ist offenbar der passionierte Dickinson-Fan, den Kübler sich wünscht, den sie gewissermaßen voraussetzt. Zwar räumt sie ein, dass es in Dickinsons Werk auch Unfertiges, Gelegentliches und Improvisiertes gibt, meint aber, der wahrhaft interessierte Leser solle sich ihr Werk nicht vorsortieren lassen. Immerhin gibt es ja Leser - und sie dürften noch immer die Mehrzahl ausmachen -, die an die Dichterin herangeführt werden möchten, die sich einen Guide wünschen. Sagen wir ruhig: Der unvorbereitete Leser muss sich schon sehr ernsthaft in die gewaltige, auf Bibeldruckpapier dargebotene Masse einarbeiten, ehe er wahrhaft belohnt wird.
Aber wir wollen nicht undankbar sein. Dem willigen Enthusiasten kommt Gunhild Kübler entgegen. Vor allem mit einem weit ausholenden Nachwort, das Emilys Biographie mit ihrer Zeit, vor allem dem Amerikanischen Bürgerkrieg, zusammenbringt. Dickinsons skeptisch-ironische Geisteswelt scheint in den hochkonzentrierten, betörend rätselhaften Versen auf; und nicht zuletzt kommen die Probleme einer Übertragung in deutsche Verse und Reime zur Sprache. Vergessen wir nicht, dass Kübler zu vielen der Gedichte erhellende Anmerkungen liefert, ja auf Dunkelheiten und Schwächen mancher Gedichte verweist.
HARALD HARTUNG
Emily Dickinson: "Sämtliche Gedichte". Zweisprachig. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler.
Hanser Verlag, München 2015. 1404 S., geb., 49,90 [Euro].
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