seine Spur: Isaak Babel, Günter Grass, Danilo Kis, Imre Kertész, Herta Müller. Wie jedes Erfolgsrezept zog aber auch dieses Nachahmer an, deren Können mit ihrem Willen zum Effekt nicht Schritt hielt. Wer sein historisches Trauma heute durch die Optik eines Heranwachsenden brechen möchte, sollte daher sein Handwerk beherrschen - oder sich selbst.
Für Christoph Meckels "Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg" trifft paradoxerweise beides zu. Meckel zeigt sich hier auf der Höhe seiner Kunst und seiner Selbstdisziplin als Erzähler. Der schmale Band rekapituliert seine Erlebnisse vom Kriegsende bis zum Sommer 1947. Es ist die Geschichte einer doppelten Flucht: vor den britischen Bomben aus Freiburg nach Erfurt und vor den Russen nach Freiburg zurück. "Russische Zone" vergegenwärtigt allerdings nur den zweiten Teil dieses westöstlichen Pendelschlags. Abschließend wird die Zeitspanne bis 1990 zu einem knappen "Envoi" gerafft, wo das Pendel noch einmal nach Osten ausholt: vom Paris Paul Celans, der Meckel seine Übertragungen russischer Lyrik im Manuskript zu lesen gab, bis zu einer Reise ins Erfurt der Nachwendezeit. Dieses Zurückschwingen in die "russische Zone" ist, auch wenn es nur einen Bruchteil des Buches ausmacht, bedeutsam, da es das teils bedrückende Erinnerungsbild von den slawischen "Befreiern" wieder zurechtrückt. Der Dichter Meckel verdankt den Russen viel. Wie viel, das hat er 1981 in seiner "Nachricht für Baratynski" zu Protokoll gegeben - einem Text, der ebenfalls schon das Zickzack der Familie über die Karte des zerbombten Deutschlands nachzeichnet und mit einer Liebeserklärung an die russische Poesie verknüpft.
Bei Kriegsende war Christoph Meckel zehn. Der Sechsundsiebzigjährige aber weiß, wie schwer Kindlichkeit zu fingieren ist. So bleibt das erwachsene Bewusstsein des Erzählers wach, während er sich erinnert, wie das Kind damals gefühlt hat. Zugleich aber fängt er zielsicher ein, was jugendliche Wahrnehmung ausmacht: die Neugier, die sich mit gleichem Interesse auf "grasgrüne Waldmeisterbrause" richtet wie auf die "Brotbeutel, Stahlhelme, Brillen und Briefe" der Leichen im Wald; die Hinnahme auch noch der desolatesten Umwelt als der Welt an sich; die uneinnehmbaren Rückzugsräume des Tagtraums. Wundervoll lakonisch fasst es der Erzähler zusammen: "Wir lebten von dem, was wir hatten und uns beschafften, ich lebte davon, dass ich zehn Jahre alt war."
Das Bild der Zeit, das Meckel zusammensetzt, unterscheidet sich an der Oberfläche kaum von dem Trümmermosaik, das jeder mit dem Begriff "Nachkrieg" verbindet: "Ziegelschuttstraßen", "Schwarzfensterhäuser, zerbombte Gärten", "Hamsterfahrer, erschöpfte Landser, Landlose, Hauslose, Fluchtvagabunden", Autos mit Holzvergaser, Leiterwagen mit gestohlener Kohle, Amis mit "Chewinggum", "Corned-Beef-Büchsen und Schokolade". Aufzählungen sind Meckels Spezialität. Das ändert sich auch nicht mit dem Einmarsch der Russen in seine Erzählung: "Aus der Nacht, von nah und weit draußen, bei jedem Wetter, drangen Schreie ins Haus, die jeder hörte, der wach war, die keiner beantworten konnte und keiner vergaß . . ., Rufe, Hilferufe, Gewimmer von Frauen und Männern, einzelnen Frauen, wie vielen Männern, und ich wusste nicht - und ich wusste -, was dort passierte."
Das wissende Nichtwissen: Wie oft entsprang es im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland dem, was Nietzsche den "Willen zum Nicht-Wissen" genannt hat. Meckel, Autor zweier "Suchbilder" über die Rolle der Elterngeneration im Dritten Reich, hat sich mit diesem Komplex lange genug auseinandergesetzt. Heute genügt ihm die lapidare Bemerkung: "Von den Verbrechen der Deutschen erfuhr ich nichts." Das Wissen des Zehnjährigen beschränkt sich auf die "hart und von Grund auf" gewonnene Einsicht, "dass Deutscher zu sein kein Triumph, vielleicht keine Chance war". So knapp wird klargestellt, dass man der Geschichte seines Landes nun einmal nicht entwischt.
Christoph Meckel beherrscht die hohe Schule, einen Punkt zu setzen. Wo ihn der Wortrausch davonträgt, etwa bei der hinreißenden Beschreibung des Glockenläutens im Erfurter Dom, zügelt er sich stets im richtigen Augenblick, wechselt das Tempo, versammelt sich. Seine Prosa, gebändigt bei aller lyrischen Kraft, gewinnt dadurch etwas Federndes, das sie beglückend leicht wirken lässt. Meckel hat sich 66 Jahre Zeit gelassen, um seine Kindheit aus dem Schutt der russischen Zone zu bergen. Jetzt kann er sicher sein: Sie wird ihn überdauern.
URS HEFTRICH
Christoph Meckel: "Russische Zone". Erinnerung an den Nachkrieg.
Libelle Verlag, Lengwil 2011. 112 S., br., 16,90 [Euro].
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