1886 bis 1967 lebte, heute zu Unrecht weithin vergessen - hat es doch durchaus nicht erst der "cultural studies" bedurft, um solche Themen auf die Agenda der kunsthistorischen Forschung zu setzen. Allein schon die exquisiten Titel seiner Studien sollten ihn einer Leserschaft empfehlen, die heute wieder verstärkt gegen den Kanon aufbegehrt.
Der expansive und transgressive Charakter von Rudolf Berliners Denken verdankt sich namentlich seiner Studienzeit in Wien, wo er am Jahrhundertbeginn seine stärkste Prägung in der sogenannten "Wiener Schule" um Max Dvorák, Julius von Schlosser, Alois Riegl und Josef Strzygowski erfuhr. Wenn er auch in der Folge auf erhebliche Distanz zu seinen Lehrern ging - allein Riegls Buch über die "Spätrömische Kunstindustrie" nahm er davon aus -, sind seine historische Universalität, sein bald unzeitgemäßer Internationalismus und das akademisch unbekümmerte Übertreten sämtlicher Gattungshierarchien nicht denkbar ohne die dort erhaltenen Anregungen.
Und nicht zuletzt ist es die von den Wienern als unverzichtbar begriffene Objektnähe, die Berliner folgenreich bestimmt hat. Sein eigentliches Wirkungsfeld nämlich war das Museum - seit 1912 und bis zu seiner Entlassung aus rassistischen Gründen im Jahr 1935 war er am Bayerischen Nationalmuseum in München tätig. Legendär geworden sind seine Ankäufe (oft aus dem Bereich der sogenannten Volkskunst) und Bestandskataloge; nicht zuletzt auf seine Initiative geht aber auch die Gründung der "Neuen Sammlung" zurück. Kurzfristig im Konzentrationslager Dachau interniert - seine Befreiung verdankte er dem beherzten Eingreifen von Kollegen -, emigrierte Berliner 1939 in die Vereinigten Staaten, wo er an verschiedenen Museen der angewandten Künste zwischen New York und Washington wirkte. Diese praktische Arbeit als Kustos begleitete unausgesetzt eine ebenso umfangreiche wie vielfältige Publikationstätigkeit, in deren Zentrum vor allem Fragen der christlichen Ikonographie standen.
Berliners Hauptthema waren dabei die Passion und die Person des Erlösers, wobei sein sicher bedeutendster Beitrag der Erforschung der "Arma Christi" galt, der im Bild wappenartig eingesetzten Leidenswerkzeuge des lebend-toten Schmerzensmannes. Dieser kapitale Aufsatz aus dem Jahr 1955 ist jetzt - gemeinsam mit dreizehn weiteren Studien zum christlichen Bild, vor allem des Mittelalters - wieder zugänglich gemacht worden und erweist Berliner als überaus zeitgemäßen Autor. Er war kein Systemdenker, aber ein äußerst bewußter Methodiker, der stets auf der besonderen Konsistenz seiner Disziplin beharrte. Die Kunst umschrieb er als eine "Sprache", die das Bewußtsein voraussetze, damit sie verstanden werde, wobei dieses Verständnis den bloßen Augenschein zu überschreiten habe. Das folgt dem Wölfflins Diktum, wonach, was für die Anschauung bestimmt ist, auch vom Sichtbaren her beurteilt werden will.
Scharf setzte sich Berliner mit Ernst H. Gombrichs problematischem Symbolbegriff auseinander, der unbewußt gewählte "Symbole" der Psyche in der Kunst zu entdecken suchte. Kunst rekurrierte für ihn auf ganz bewußt gewählte Formen und Zeichen, um an den Sinn oder das Gefühl zu appellieren - weshalb es ein veritables System der Symbolik nicht geben könne. Vielmehr erkannte Berliner in ihr den Niederschlag der Kunst der Exegese; Glaube und Frömmigkeit galten ihm dabei mehr als die wissenschaftliche Theologie. Noch Raffaels "Sixtinische Madonna" betrachtet er als ursprünglich "leicht zu handhabendes Bild" für Kultushandlungen einer Gebetsgemeinschaft zur Pflege des Gedankens an den Tod.
In den hier versammelten Aufsätzen entfaltet sich Berliners ganz eigene Hermeneutik, die Ikonographie und Bildpraxis auf besonders erhellende Weise miteinander verbindet und so das Verständnis des religiösen Bildes auf gänzlich neue Grundlagen gestellt hat. Die Erneuerung und Konjunktur der Mittelalterforschung der letzten Jahre sind ohne diese Vorgabe kaum zu denken; seine Bekräftigung, daß die mittelalterliche Kunst weit größere Freiheiten in Anspruch genommen habe, als es das zumal in Deutschland lange ideologisierte Mittelalterbild zu erkennen zuließ, hat endlich auch das wissenschaftliche Denken befreit.
Man muß Berliners Aufsätze nicht als Antidot zu vermeintlich verwerflichen Tendenzen der aktuellen Kunstwissenschaft empfehlen - wie das die merkwürdig mißmutigen und diesbezüglich von heftigen Ressentiments durchdrungenen Bemerkungen des Herausgebers tun. Vielmehr dürfte Berliner sich problemlos auf eine Bildwissenschaft verständigt haben, die heute, mit gehöriger Verspätung, seinem souveränen Zugriff folgt.
ANDREAS BEYER.
Robert Suckale (Hrsg.): "Rudolf Berliner (1886-1967)". "The Freedom of Medieval Art" und andere Studien zum christlichen Bild. Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2003. 293 S., 143 S/W-Abb., geb., 29,80 [Euro].
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