man gerne. Daß sich die künstlerische Phantasie an ihnen entzündet, ist die Ausnahme. Ausgerechnet dort, wo in dieser Geschichte die Moral zu lesen ist, trifft der Betrachter auf die überraschendste Szene dieses ungewöhnlichen Bilderbuches: Der Wolf sitzt nach seiner Tat auf einer öden Halbkugel und heult traurig den Mond an. Der scheint rot und rund herab vom dunklen Himmel. Hat sich die Seele Rotkäppchens dorthin verzogen, sehnt sich der Wolf nach ihr? Trägt sie also am Ende den Sieg davon?
Es gibt vieles zu enträtseln; Battut verwendet eine symbolische Bildsprache. Die ist eindeutig und mehrdeutig zugleich, und sie hat auch Kindern etwas zu sagen. Vielleicht ist ihnen sogar das abstrakte Beziehungsspiel der Farben spontaner zugänglich als einem kunsthistorisch bewanderten Erwachsenen, der über die Spuren der Moderne in diesen Bildern nachdenkt.
Die Blumen, die Rotkäppchen unterwegs pflückt, sind natürlich rot; wie Blutstropfen liegen sie auf den endlos weiten Feldern. Die Felder haben ein rotverwischtes Gelb, es schafft die großen, leeren Flächen, die einsamen Landschaften, durch die Rotkäppchen stapft. Neben den beiden Grundfarben Rot und Gelb herrscht hier vor allem das Schwarz, die Farbe des Nichts: Schwarz sind die Zypressen, die sich wie ein Chor der antiken Tragödie dem Betrachter zuzuwenden scheinen, um etwas zu erklären. Und tiefschwarz ist der Wolf.
Doch in der großen Stunde seiner Macht wirkt er eigentümlich mickrig und irgendwie lächerlich unter der riesenhaften gelben Bettdecke. In diesem Bilderbuch gehen Text und Bild oft unterschiedliche Wege, und gerade das macht es so spannend.
MYRIAM MIELES
Eric Battut / Charles Perrault: "Rotkäppchen". Bohem press, Zürich 1998. 40 S., geb., 26,80 DM. Ab 5 J.
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