erschreckendes Bild, das durch drei Grundmotive gekennzeichnet ist.
Das erste Motiv ist das einer "Aufklärungsblockade" (Hajo Funke): Eine umfassende Aufklärung der Untaten des NSU wird nicht zuletzt durch die fehlende Bereitschaft der Bundes- und Landesregierungen, des Bundes- und der Landesämter für Verfassungsschutz sowie des Bundes- und der Landeskriminalämter erschwert, alle verfügbaren Informationen bereitzustellen. Das verunmöglicht insbesondere die Aufdeckung des Unterstützer-Netzwerks, auf das sich die mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe viele Jahre stützten und das auf bis zu 200 Personen geschätzt wird.
Neben dem von den Autoren Thies Marsen und Kurt Möller erhobenen Vorwurf eines "institutionellen Rassismus", der sich bereits bei den anfänglichen, fatal fehlgeleiteten Tatermittlungen gezeigt habe, zielt die Kritik insbesondere auf die Zurückhaltung von Informationen, die mit ständigen Informanten (sogenannten V-Männern) zusammenhängen. Quellenschutz wird immer noch zum vorrangigen Staatsinteresse erhoben - selbst dort, wo V-Männer in Straftaten involviert waren oder infolge ihrer "doppelten Loyalität" (Ulrich Chaussy) mehr blockierend als unterstützend bei der Aufklärung von Straftaten und der Ermittlung von Straftätern wirkten. Darüber hinaus scheint das V-Mann-System teilweise geradezu als staatlich finanziertes Subventionssystem für rechte Strukturen fungiert zu haben.
Die Vorgeschichte dieser bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zurückreichenden Strukturen wird in verschiedenen Beiträgen erkundet. Dadurch lässt sich der NSU historisch klar einordnen: Der NSU-Terrorismus ist, wie Samuel Salzborn betont, "kein neuartiges Phänomen, sondern Teil einer in der unmittelbaren Nachkriegszeit beginnenden Reorganisation des Alt- und Neonazismus, der über eine organisatorische Findungsphase vor allem seit den achtziger Jahren kontinuierlich in Gewalt und Terror mündet". Dabei spielen jedoch auch regionale Besonderheiten eine Rolle.
Allerdings greift, wie Salzborn ebenfalls hervorhebt, ein "rein regionalhistorischer Deutungsansatz", der die Entstehung des NSU-Rechtsterrorismus allein ostdeutschen Besonderheiten zuschreibt, zu kurz. Dennoch sei auffällig, dass "die Toleranzbereitschaft für Rassismus und Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR bis heute signifikant höher als im Westen" sei, "wie aktuell auch die Bewegung der sogenannten Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) und die Wahlerfolge der NPD sowie der Alternative für Deutschland (AfD) in den ostdeutschen Bundesländern zeigen". In diesem Zusammenhang verweist Norbert Frei ergänzend auf "die Situation Anfang der neunziger Jahre, an diese xenophobe Vereinigungsgewalt", die im Osten Deutschlands zwar einen Schwerpunkt hatte, sich darauf jedoch nicht beschränkte.
Grundlage und Voraussetzung der Entstehung wie der Aktivitäten des NSU sei vielmehr, dass in einigen Teilen Deutschlands Rechtsextremismus Teil der Alltagskultur sei - in Subkulturen, aber auch in Teilen der Mehrheitsgesellschaft. Die Sichtbarmachung dieser verschiedenen Formen rechter Alltagskultur in Ost- wie Westdeutschland ist das zweite Grundmotiv des Bandes. Schließlich ist rechtsextremes Denken, Handeln und Leben äußerst vielfältig: Die Spannbreite reicht von rechter Musik über alltagsrassistisches Verhalten bis zu terroristischer Gewalt. Gerade in Teilen Ostdeutschlands entstand nach der Wiedervereinigung "ein umfassender rechter Lifestyle" (Thies Marsen), der in einigen Regionen infolge einer "ungestörten Radikalisierung" (Katharina König) bis zu einem "alltäglichen Terror" durch Neonazis (Tanjev Schultz) reichte. Wie tief rechtsextreme Einstellungen heute in Alltagskultur und Öffentlichkeit eingedrungen sind, verdeutlichen Claudia Luzar zufolge die Anhänger von Pegida.
Solche grundsätzlichen Überlegungen zum zeitgenössischen Rechtsextremismus bilden das dritte Grundmotiv des Bandes. Insbesondere die Abschlussdiskussion, mit deren Wiedergabe der Band beschlossen wird, ist selbst ein zeitgeschichtlich interessantes Dokument. Bereits wenige Monate vor der Kölner Silvesternacht warnte Frei vor einem "Umkippen" der Stimmung in der Flüchtlingsdebatte. Den von ihm prognostizierten Umschwung führte er damals auf einen zunehmenden "medialen Erwartungsdruck" zurück. Doch die fragende Haltung vieler Medienvertreter war sicherlich nicht allein den Prinzipien der Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet. Vielmehr brachten sie die zugleich staunende und schwankende Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft im Jahr 2015 zum Ausdruck.
Am Ende mag das Misstrauen gegenüber der sozioökonomischen Stärke und dem humanitären Grundcharakter der Bundesrepublik einen Etappensieg errungen haben. Der darin zum Ausdruck kommende Mangel an bürgerlichem Selbstverständnis und demokratischem Könnens-Bewusstsein ist ein Quell jener gegenwärtig zu beobachtenden politischen Radikalisierung der Gesellschaft. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass es - wie Frei hervorgehoben hat - auch "Gegenentwicklungen zum Rechtsradikalismus" in Form einer "massiven zivilgesellschaftlichen Gegenbewegung" gibt: "Wir haben also beides - und keine einlinig zu beschreibende Situation." Dem bleibt nichts hinzuzufügen.
MARIAN NEBELIN
Sybille Steinbacher (Herausgeber): Rechte Gewalt in Deutschland. Zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Gesellschaft, Politik und Justiz. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 251 S., 20,- [Euro].
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