Rot ist? - Eine Antwort wäre: ,Ich habe Deutsch gelernt.'"
Den Sinn von Worten bestimmt also der Kontext. Oder: Laute und Zeichen produzieren nicht Sinn, aber unter glücklichen Umständen können sie etwas Sinn speichern. Das gilt auch für das Recht. Wenn man Recht und Sprache unterscheidet, kann man allenfalls die Sprache vom Recht aus interpretieren, aber das Recht nie über die Sprache korrigieren. Die Sprache ist viel zu allgemein. Sie muß allen gesellschaftlichen Subsystemen dienen, auch Religion, Wirtschaft und Familie. Insofern gibt es keine Sprache des Rechts.
Der Band löst seinen Anspruch aber ein. Während der Lektüre mußte der Rezensent wiederholt denken: Nein, dieser Gedanke ist nun wirklich längst widerlegt und überholt, um dann im nächsten Beitrag genau das zu lesen. Alles ist vertreten, auch das Gegenteil. Nur Wittgenstein fehlt. Das Spektrum der Meinungen reicht von der Erklärung, das Thema sei sinnlos, über gelangweiltes Gähnen und gutgemeinte Stiltips bis zum strammen Demokratismus des justizministeriellen "Handbuchs der Rechtsförmlichkeit", das die Verständlichkeit der Gesetze zum Gebot der Demokratie erklärt. Die Hoffnung, durch neue, preiswerte Sprachregeln die Effizienz der Gesetze steigern zu können, dürfte auch die "Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Berlin" veranlaßt haben, die Publikation zu unterstützen. Aber "die Vorstellung, daß eine klare und verständliche Formulierung des Rechts Kenntnis des Rechts ermöglicht", hält der italienische Rechtsphilosoph Raffaele de Giorgi aus guten Gründen für grotesk.
Recht wird nicht von Worten gesteuert, sondern von Erwartungen, die sich allerdings in der Regel erst bemerkbar machen, wenn sie enttäuscht werden. Was Philologen und Linguisten über die Sprache des Rechtes sagen, läßt das Recht daher kalt. Die Akademie hätte sich die Interdisziplinarität schenken können.
Man kann das auch an den Beiträgen erkennen. Natürlich hat die Arbeitsgruppe allen Autoren alle Manuskripte vor der Publikation zur Kenntnis gegeben. Einige Autoren sind auf andere Beiträge des Bandes eingegangen. Besonders unterhaltsam und lehrreich mokiert sich die Frankfurter Rechtshistorikerin Regina Ogorek über die Bemühungen ihrer Kollegen. Aber insgesamt hat man den Eindruck, als habe kein Autor einen anderen zur Kenntnis genommen. Ausgerechnet die Nichtjuristen beharren darauf, daß Demokratie die Verständlichkeit des Rechtes gebiete. Der Psycholinguist Wolfgang Klein formuliert das Gebot atemberaubend schön und verständlich: "Ein Gemeinwesen, in dem das Volk herrscht, darf nicht von Gesetzen beherrscht werden, die das Volk nicht versteht." Hans Magnus Enzensbergers Tiefschlag "Von den Vorzügen der Unverständlichkeit" kann Klein aber nicht zur Kenntnis genommen haben.
Das ist zu entschuldigen, weil Enzensberger für seine Botschaft, die Unverständlichkeit des Rechtes solle lediglich die Juristen in Macht und Brot setzen, nur eineinhalb Druckseiten benötigt. Die kann man schon einmal überblättern. Außerdem ist nicht klar, ob die Bemerkungen Enzensbergers ernst oder ironisch gemeint sind. Beides wäre dem Thema angemessen. Ironie führt vielleicht etwas weiter, weil Sprache von Natur aus doppelbödig ist und auch im Recht zwischen Norm und Gesetz unterschieden werden muß.
Die systemtheoretisch inspirierten Beiträge überzeugen noch am ehesten, weil sie Sprache als ein Medium darstellen können, das mit Recht nicht viel zu tun hat. Was Sprache und Recht füreinander bedeuten, könnte man vielleicht erhellen, wenn man die Sprache im Rechtsstaat mit der Sprache im Unrechtsstaat vergliche. Aber wahrscheinlich bliebe man schon an der Recht/Unrecht-Unterscheidung hängen und verlöre die Sprache aus Augen und Ohren. Deshalb schlägt man besser bei Wittgenstein nach: "Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind."
In der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gibt es keinen Wittgenstein. Deshalb hat die Arbeitsgruppe "Sprache des Rechts" die Äußerungen von Vertretern verschiedener Fächer in alphabetischer Reihenfolge einfach addiert, wohl in der Hoffnung, bereits die Addition entzünde die Flamme der Interdisziplinarität. Aber wenn Addition auf alle inhaltlichen Gliederungspunkte verzichtet, kann sie auch Einseitigkeiten verstärken. Diese Blätter zählen daher leider nicht zu den Ruhmesblättern der Akademie.
GERD ROELLECKE
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