Rahmenbedingungen für derartige Unternehmungen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts.
Im Einklang mit spätmerkantilistischen Idealen hatte der Kurfürst 1758 ein Privileg zur Herstellung von Seide erteilt, adressiert an Jean Pierre Rigal, einen Geschäftsmann mit nicht ganz weißer Weste, denn er war mit einem ähnlichen Projekt im Württembergischen bankrott gegangen. Diesmal aber schien das Glück ihm hold. Die Geschäfte liefen prächtig, zunächst jedenfalls. Überall in der Pfalz pflanzte man nun Maulbeerbäume und träumte von einer goldenen, einer seidenen Zukunft.
Doch dann kamen die große Politik und der Zeitgeist dem Geschäftsmodell in die Quere. Die Revolution von 1789 im nahen Frankreich führte zu einem Rückgang der Nachfrage, da sich die Angehörigen der herrschenden Klasse jetzt eher um ihre Köpfe denn um seidene Strümpfe sorgten. Erst nach dem Wiener Kongress erholte sich der Markt für Luxusgüter wieder. Überdies passte eine auf Privilegien und Monopolen basierende Planwirtschaft nicht mehr in eine Zeit, die ihren Adam Smith gelesen hatte und sich von einer Bevormundung der freien Wirtschaft kein Heil versprach. Erst recht war dem auch in der Pfalz erstarkenden Bürgertum die Pflicht ein Dorn im Auge, für hohe Herren und andere Profiteure Maulbeerbäume anzupflanzen. 1793 trat die Regierung den Rückzug an und schloss mit den Rigal-Erben einen Aufhebungsvertrag.
Also alles für die Katz? Nicht ganz, wie ja häufig sich das ökonomisch Sinnlose als kulturell und lebensweltlich profitabel erweist. Mancherorts nämlich stehen die Maulbeerbäume zu des Pfälzers Freude noch. Auch auf dem Hof des Elternhauses von Michael Stolleis in Mußbach befand sich bis 1980 ein alter, starker Maulbeerbaum, der die Kinder, also einst wohl auch ihn, mit Früchten versorgte, wie weiland der Birnenbaum des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland die dortige Jugend nährte.
Der alte Fontane kommt dem Leser unwillkürlich in den Sinn, wenn er sich in die wunderbaren regionalhistorischen Vignetten des im März verstorbenen Rechtshistorikers vertieft. In den Sinn kommt der Stechlin, jener stille See in der Grafschaft Ruppin, der - "wenn es weit draußen in der Welt zu rollen und zu grollen beginnt" - mit einem aufsteigenden und absinkenden Wasserstrahl seine unterirdische Beziehung zum großen Ganzen dokumentiert. Denn darum geht es Michael Stolleis: Er möchte das Große im Kleinen sichtbar machen. Er neige, bekennt er in der Einleitung, "mehr und mehr zur Betrachtung von Einzelfällen, hoffend es mögen sich dort nicht nur teils wandelbare, teils konstante menschliche Elemente zeigen, sondern auch entsprechende Formen des Rechts". Anhand acht solcher "Einzelfälle" beschreibt und analysiert er zwei Jahrhunderte pfälzisch-deutsche (Rechts-)Geschichte, eng an den Quellen, um Objektivität und Ausgewogenheit ringend, aber nicht ohne "ein Gran Heimatliebe oder Mitgefühl für Land und Leute".
Wie von dem Verfasser einer vierbändigen Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts nicht anders zu erwarten, fand auch die Biographie eines gelehrten Juristen Aufnahme in die Sammlung. Johann Theodor Sprenger (1630 bis 1681), geboren in Butzbach und lutherisch getauft, wechselte wie andere frühneuzeitliche Juristen beständig zwischen Universität, Diplomatie und Fürstendienst. 1666 trat er (nach einer Rom-Reise) in Frankfurt zum Katholizismus über. In Salzburg machte er dann Karriere und brachte es bis zum Hofkanzler.
Wir erfahren von Sprengers Verdiensten um das Frankfurter Baurecht, das damals eine Geschosshöhe von maximal drei Stockwerken erlaubte, und von der sozialen, rechtlichen und sittlichen Bedeutung des Tragens langer Haare als Zeichen von Freiheit und Unbescholtenheit. Davon handelte eine der Vorlesungen des langhaarigen Sprenger an der Universität Heidelberg. Und wir erfahren von den Salzburger Hexenprozessen, denen mehr als hundertfünfzig Menschen zum Opfer fielen, meist mittellose Jugendliche. Sprenger war wohl nicht die treibende Kraft hinter diesen üblen Exzessen, aber er hat sich ihnen auch nicht widersetzt. Einer jener (in Deutschland nicht ganz seltenen) Juristen also, "die als diensteifrig sich drehendes Rädchen großer Maschinen oft an Dingen mitwirken, von denen sie wohl besser die Finger gelassen hätten".
Auch die Protagonisten des sogenannten Zugs nach Steinfeld waren keine überlebensgroßen Heroen. Immerhin standen sie - aus heutiger Sicht - auf der richtigen Seite. In den Wirrnissen nach dem Scheitern der Nationalversammlung 1849, im Schatten des badisch-pfälzischen Aufstands marschierte die Bürgerschaft von Bergzabern gegen Steinfeld, um den wegen revolutionärer Umtriebe verhafteten Kommandanten der Bergzaberner Bürgerwehr zu befreien, was schließlich gelang. Allerdings währte die Freude nur kurz, denn die Reaktion trug auch in der Pfalz den Sieg davon. So kam es, dass die Aufständischen sich 1850/51 vor Gericht verantworten mussten, unter ihnen ein Neustadter Seiler, ein gewisser Georg Stolleis. Ehrensache, dass sich ein Rechtshistoriker mit Verve über die Gerichtsakten beugt, wenn die eigene Verwandtschaft betroffen ist.
Für Stolleis den Älteren endete die Sache recht glimpflich. Nicht nur kam er in den Genuss einer Begnadigung und musste nicht die gesamt Strafe verbüßen, er profitierte zudem von der fortschrittlichen Gesinnung einer reformorientierten Anstaltsleitung im Zentralgefängnis von Kaiserslautern. Statt Georg Stolleis und seine Mithäftlinge mit öffentlicher Zwangsarbeit zu demütigen und zugrunde zu richten, wollte man sie auf das Leben in Freiheit vorbereiten und betraute sie unter anderem mit der Fabrikation von Seide. Maulbeerbäume gab es ja in der Pfalz in Hülle und Fülle.
Ein stilles, ein kluges Buch, das vor Augen führt, was wir nach dem Tod von Michael Stolleis vermissen werden: Eleganz und Ökonomie in der Komposition wie im Ausdruck. Und ja, den notwendigen Gran Heimatliebe. DANIEL DAMLER
Michael Stolleis: "recht erzählen". Regionale
Studien 1650-1850.
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2021. 232 S., br., 28,- Euro.
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