vorsichtiger: Sie visualisieren auf elektrophysiologischer oder biochemischer Basis Strukturen im arbeitenden Gehirn. Schnell proklamierten Revolutionen können mühsame Zeiten folgen. Allmählich erst tut die Neuroforschung Schritte in die mit anderen, etablierten Wissensgebieten tatsächlich wettbewerbsfähige Forschung hinein. Gesucht ist Praxisrelevanz. Wie bewährt sich funktionelle Bildgebung jenseits abstrakter Hypothesen? Was kann man von der Neuroforschung lernen?
Rechenstörungen bei Kindern - zu diesem schulpraktisch wichtigen Problem versammelt ein gleichnamiger Band aus dem Hause Vandenhoeck & Ruprecht Überblicke aus kognitiv-neurowissenschaftlicher und medizinischer sowie aus pädagogisch-psychologischer Perspektive. Die Neuroforschung bietet Meßdaten: Unter welchen Bedingungen zeigen sich wo im Kopf Hirnaktivitäten, während Erwachsene und Kinder sich mathematisch anstrengen und das Aufgabenlösen mehr oder weniger gut klappt? Das entscheidende Ergebnis der bildgebenden Untersuchungen läuft vor allem den bisher offenbar zu einfachen Vorstellungen vom Gehirn zuwider. Rechnenkönnen ist ein äußerst komplexes Vermögen. Stets sind etliche Hirnregionen beteiligt, und Rechen-Teilanstrengungen erfolgen typischerweise weit verteilt, vor allem bei ungewohnten Aufgaben. In unseren Köpfen existiert überhaupt nicht ein Ort der Zahl.
Vertraute Einsichten aus Metamathematik und Logik werden vom Hirnbild her neu entdeckt: Arabische Ziffer, gesehene Menge von Gegenständen, Zahlwort, quasiräumlicher Zahlenstrahl sind ebenso etwas Verschiedenes, wie sich die "kardinalen" zählbaren Einheiten, etwa Äpfel, Birnen, unterscheiden von den "ordinalen" Funktionen, also Operationen wie Eins-Dazuzählen. Der Herausgeber Michael von Aster favorisiert angesichts der Vielfalt ein 1992 von dem Neuroforscher Stanislas Dehaene entwickeltes Modell: Was uns das mathematische Denken ermöglicht, ist eine dreiteilige "Modularisierung" des Gehirns. "Module" wiederum werden im Laufe der kindlichen Normalentwicklung erworben, denn Gehirne sind nicht einfach da, sondern sie entwickeln sich plastisch. Sie formen sich beim Lernen. Liegt eine Rechenstörung vor, so muß in der Entwicklung etwas schiefgegangen sein.
Bei der Entwicklung setzen die pädagogisch-psychologischen Überlegungen an. Für die Didaktik der Mathematik bestand mit Piaget und Russell das Rechnen immer schon aus vielen komplexen logisch-praktischen Operationen. Wichtig ist es vor allem, nicht nur die Zahlenanschauung, sondern den Zahlenkonstruktionssinn und damit die algorithmischen Fähigkeiten von Kindern zu schärfen. Wie schwer sich jedoch der erziehende Umgang mit Rechenstörungen in eine neuromedizinische "Klinik" verwandeln läßt, zeigt der Beitrag von Klaus-Jürgen Neumärker und Michael Bzufka: Auch wenn neurobiologische Korrelate der Rechenschwierigkeiten existieren, geht in der Diagnose alles ineinander über. Man hat nur so etwas wie Begleitbilder: Nachgewiesene zerebrale Defizite führen keineswegs zwangsläufig zur sogenannten Dyskalkulie. Vor allem aber verweisen auch schwere, auf dem Hirnbild sichtbare Störungen beim Rechnen fast immer auf ein soziales Umfeld. Und Rechenschwierigkeiten sind von anderen, etwa motorischen Störungen nicht zu lösen.
Wenig hält somit funktionelle Bildgebung und Pädagogik zusammen. Daß Hirnbilder illustrieren, wie komplex jene Tätigkeit ist, die wir Rechnen nennen, läßt den Neuroforscher staunen, bietet aber dem Lernexperten eine Bestätigung, aus der nicht viel folgt. Daß sich die beiden professionellen Perspektiven allerdings wenig stören, fällt auf. Im Buch scheint es einen theoretischen Grund zu haben: die von allen betonte These von der "Plastizität" des Gehirns. Neuronale Netze werden als permanent in Umbildung begriffen, also haben Kinder mit Rechenstörungen nur gleichsam unbeholfene Gehirne, und was der Neurobiologe Behandlung nennt, kann für den Pädagogen Lernen heißen. Denkt man das Gehirn hinreichend plastisch, so scheint es nicht mehr als ein allgemeiner Namen für "Fähigkeiten" zu sein: individuell erworben, kulturell geprägt, aktuell abrufbar.
Ist Hirn also gleich Handelnkönnen? Bringt das Anwendungsfeld Erziehung eine Art Neuro-Kulturalismus hervor? In der Wortwahl schleppt der Sammelband gleichwohl einiges an latenten Widersprüchen mit. Die Plastizitätshypothese paßt weder mit dem gleichwohl offensiv verwendeten Kriterium der "Störung" und der "Krankheit" zusammen noch mit vielfach unreflektiert verwendeten Computer-Analogien: Schaltkreise, Online-Halten von Informationen, Taschenrechner in unserem Kopf. Wo wäre die Grenze zwischen fehlendem oder verkehrtem Gelernthaben und gestörter, kranker, kaputter Beschaffenheit des Hirns? Die Beiträge des Buchs unterscheiden nicht zwischen Lernen und Behandlung - des Gehirns. Ebendas legt zwischen beidem einen fließenden Übergang nahe. Es bleibt offen, ob nicht der Pädagoge, wiewohl ihm Hirnbilder wenig sagen, künftig doch mit dem Neurologen kooperieren soll.
Erträge der Hirnforschung bilanzieren ebenfalls die neuro- und kulturwissenschaftlichen Beiträge eines von zwei Medizinern und einer Therapeutin herausgegebenen Bandes über Schlaf und Traum, erschienen im Schattauer Verlag. Auch im Feld des Traums - einer der von jeher faszinierendsten und bis heute im wesentlichen dunklen Gegenstände von zweitausend Jahren europäischer Forschung - scheinen die Dinge durch die Neuroforschung nicht einfacher, sondern eher komplizierter zu werden. Von einem Paradigmenwechsel ist die Rede, denn bildgebende Verfahren tragen zur Widerlegung von so gut wie allem bei, was man über den Traum zeitweilig zu wissen glaubte.
Weder träumen wir - halten wir uns an die Darstellung von Aktivität in den für das Träumen zuständig erklärten Hirnregionen - nur in den sogenannten REM-Phasen des Nachtschlafs, also in den Phasen, in denen sich Augenbewegungen messen lassen. Noch lassen sich für Erkrankungen bestimmte typische Traumfrequenzen oder -zeiten zeigen. Umgekehrt sprechen zugleich psychologische Studien für einen erheblich realistischeren Charakter von Trauminhalten, als man früher dachte, und auch für eine aktive, etwa für das Lernen hilfreiche Funktion des Träumens.
Neurobiologische Modelle des Traums als sinnleerer Entladung oder als im Hirn generierter Versuch der Verarbeitung chaotischer Signale aus Tiefenschichten sind damit passé. Träume entstehen auch nicht im Vorderhirn, wie es das dominierende neurologische Erklärungsmodell lange Zeit postulierte. Und Träume sind keineswegs nur "visuell". Vieles an ihnen ähnelt vielmehr der breiten neurophysiologischen Typik der Wachwahrnehmung. Form und Funktion des Träumens stehen so gänzlich in Frage. Ob Träume dem Ausprobieren innerer Affektmuster dienen? Oder eher der Gedächtniskonsolidierung? Und ob man sie nicht doch - was die ältere Neuroforschung strikt verneinte - deuten und zu Therapiezwecken verwenden kann?
Michael Wiegand, einer der Herausgeber des Buchs, hält ein neues Zeitalter der interdisziplinären Traumforschung für möglich. Sind Trauminhalte, Wechselwirkungen von Wachwelt und Traum sowie das neurophysiologische Gesicht des Träumens bedeutsam, so spricht der unbekannte Gegenstand Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen an. Neurobiologie sei "in". Ebendaher komme das aktuelle Theoriedebakel einer Annäherung der Fächer entgegen. Leider bleiben die kulturwissenschaftlichen Kapitel des Buches gerade vor diesem Hintergrund ausgesprochen schwach. Dietrich von Engelhard schreitet kursorisch historische Traumvorstellungen ab, ohne aus dem Thema etwas zu machen, und zwei Beiträge zum Traum in der Kunst besagen kaum mehr, als daß das Träumen Künstler inspiriert. Auch die Kulturwissenschaft objektiviert den Traum. Fragen wie diejenige nach der Grenze von Traum und Wachwirklichkeit oder diejenige nach den Formen, mittels derer wir beides auseinanderhalten oder das Träumen durch das Wachen abzulösen pflegen, werden auf diese Weise nicht gestellt.
Rechenstörungen und Träume gehören zu denjenigen Phänomenen, für die es keine eindeutigen wissenschaftlichen Zuständigkeiten und keine schlüssigen Fassungen gibt. Hier erproben beide Bücher neurowissenschaftliche Ansätze, kontrastieren sie mit pädagogischen, psychologischen, kulturhistorisch-hermeneutischen, therapeutischen Sichtweisen und suchen nach Vermittlung. Als Ergebnis zu verbuchen ist vor allem, daß die seriöse Anwendung neuer, bildgebender Verfahren nichts greifbarer macht, sondern schnell zurückführt - zurück in alte Rätsel. An den Bildern bestätigt sich die Komplexität der Dinge.
Im Falle der Rechenstörungen bleibt dies weitgehend unausgesprochen, der Band verzichtet auf grundsätzliche Reflexion. Der Band zu Schlaf und Traum hingegen macht das Staunen explizit - wohl nicht zuletzt deshalb, weil es ausgerechnet die Ergebnisse spektakulärer, sich naturwissenschaftlich verstehender Verfahren sind, die nicht zu den Modellen der bisherigen empirischen Traum- und Schlafforschung passen. Neuroforschung, so scheint es, kann also durchaus einer Steigerung der Komplexität von Problembeschreibungen dienen. Nämlich indirekt. Deshalb, weil sie nichts Objektivierbares erbringt. Jedenfalls haben funktionell gewonnene Hirnbilder, was das Träumen angeht, die Empirie einer noch schlichteren Forschung irritiert.
PETRA GEHRING
Michael von Aster, Jens Holger Lorenz (Hrsg.): "Rechenstörungen bei Kindern". Neurowissenschaft, Psychologie, Pädagogik. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2005. 238 S., Abb., br., 29,90 [Euro].
Michael H. Wiegand, Flora von Spreti, Hans Förstl (Hrsg.): "Schlaf & Traum". Neurobiologie, Psychologie, Therapie. Schattauer Verlag, Stuttgart 2006. 270 S., Abb., geb., 49,95 [Euro].
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