Kunstbiennale teilnehmen, oder eine erfundene HIV-positive Prostituierte gab über ihren mit löchrigen Präservativen geführten Rachefeldzug Auskunft.
Als die Blissetts, aus denen inzwischen ein europaweites Internet-Projekt geworden war, 1997 eine gefälschte Skandalschrift über Pädophilie, Satanismus und Medienhysterie ("Laßt die Kinder spielen") herausbrachten, trat abermals der Staatsanwalt auf den Plan. Der Bologneser Gerichtsstreit um das falsche Dossier wurde zum Musterprozeß gegen die Computerkultur. Das System verlor; die Gruppe stellte ihren Text ins Netz, schließlich wurde die Anklage fallengelassen. Damit war zugleich der Höhepunkt des Blissett-Kults überschritten. Im Herbst 1999 verkündete das Kollektiv, "viele Subjektivitäten" der italienischen Sektionen des Projekts hätten beschlossen, das neue Jahrtausend durch rituellen Selbstmord zu begrüßen, um anschließend in neuer digitaler Form wiederzuerstehen. Kurz zuvor hatte der Verlag Einaudi den ersten und also einzigen Roman von Luther Blissett veröffentlicht, den historischen Thriller "Q", der zum Bestseller wurde. Bis heute sind in Italien fast zweihunderttausend Exemplare des Romans verkauft und eine unbekannte Zahl von "Q"-Dateien aus dem Internet heruntergeladen worden. Denn die Autoren Roberto Bui, Giovanni Cattabriga, Luca di Meo und Federico Guglielmi haben ihr Werk ausdrücklich für die digitale Weiterverbreitung freigegeben.
"Q" ist ein Schlüsseltext. Das ist die Stärke und die entscheidende Schwäche des Buchs. Die Geschichte, in Briefen und Erlebnisberichten entfaltet, beginnt in den fünfziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts und blendet von dort aus zurück ins Jahr 1517, in dem Martin Luther seine fünfundneunzig Thesen gegen den Ablaßhandel der Kirche ans Portal der Wittenberger Schloßkirche schlägt. Zwischen den beiden Daten liegen die Schicksalsjahre der europäischen Reformation. Der Protagonist des Buches, ein Anonymus, der im Lauf der Erzählung den Kampfnamen Brunnengert annimmt, hat bei allen wesentlichen Ereignissen jener Zeit seine Hand im Spiel: beim Bauernkrieg von 1525, der mit der Niederlage Thomas Müntzers bei Frankenhausen endete, bei der Herrschaft der Wiedertäufer in der Stadt Münster 1534/35 und beim rasch wieder erstickten Aufflackern der italienischen Reformationsbewegung in den Jahren vor 1550. Zwischendurch reist er nach Nürnberg, Augsburg, Straßburg, Basel, Amsterdam und Antwerpen, und am Ende flieht er aus Venedig nach Konstantinopel - ein Curriculum der Ketzer- und Handelshauptstädte des Jahrhunderts.
Bei solcher Fülle an Orten und Taten geht die Übersicht leicht verloren, aber die vier Autoren haben ihr Material klug organisiert: In zwei der drei Hauptteile des Romans ist, gleichsam als musikalische Gegenstimme, eine zweite Zeitebene eingelassen, in welcher der Held das Geschehen rückblickend beschwört; und im letzten Teil treten sich Brunnengert und sein katholischer Gegenspieler zunächst in Form parallel geschalteter Tagebücher, dann endlich leibhaftig gegenüber. Doch das Duell, das sich siebenhundertfünfzig Seiten lang angekündigt hat, findet nicht statt. "Ein jegliches hat seine Zeit", sagt der Prediger Salomo, und die Zeit dieses Kampfes ist lange vorbei.
Wer ist dieser Gegenspieler? Seine Spitzelbriefe an den Kardinal Gianpietro Carafa in Rom, den späteren Papst Paul IV., zeichnet er mit einem einzigen Buchstaben: Q. Q wie Qohelet oder Kohelet, der Prediger Salomo, der Ecclesiastes, dessen historische Identität niemand kennt. Ein Phantom. Eine Luftgestalt. Eine wandelnde Hypothese. Erstaunlicherweise ist der Spion, über den man nie etwas Persönliches erfährt, die interessanteste Figur in diesem Buch, das so viel Interessantes zu berichten hat. Aber das sind alles nur aufbereitete Fakten, Wirklichkeiten aus dem Archiv; unser Mann dagegen besitzt ein Geheimnis. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem namenlosen Killer aus Frederick Forsyths "Der Schakal", und tatsächlich wirkt "Q" statt von Ecos "Name der Rose" viel eher von einschlägigen Buchbestsellern, James-Bond-Filmen und anderen Produkten der Populärkultur inspiriert.
Aber der Gebrauch, den der Roman von den Mustern des Thrillergenres macht, ist seltsam inkonsequent. Er stellt seine Figuren auf, doch dann, wie ein Schachspieler, der sich an einer faszinierenden Variante ergötzt, ohne sie durchzuführen, läßt er sie stehen und redet von etwas anderem. Das liegt nicht nur an der kollektiven Entstehungsweise des Textes, bei der die Autoren, wie sie sagen, wie eine Jazzband vorgingen, mit gemeinsam geschriebenen Passagen, die von "virtuosen Solostücken" unterbrochen wurden; es liegt an der ganzen Anlage des Romans. Denn "Q" will streng horazisch nicht nur unterhalten, sondern auch belehren, und dieser doppelte Auftrag setzt die Erzählung spürbar unter Druck.
Es muß also, wenn es um einen geplanten Kreditbetrug an den Fuggern geht, erst das Einmaleins des frühneuzeitlichen Bankwesens durchgenommen werden; oder es wird jede Station der Predigerreisen Müntzers, jede Quisquilie der Münsteraner Wiedertäuferei penibel abgefahren und nachgebetet, als läge in solcher Vollständigkeit der wahre Nachgeschmack der Epoche. Es ist aber gerade nicht das Katasterwissen, das die großen historischen Romane auszeichnet, sondern das gelungene Detail, das plötzliche Bild, in dem Geruch und Geschmack vergangener Zeiten aufblitzen wie in Flauberts Schilderung von Hamilkars Gartenfest; und von solchen atmosphärischen Wahrheiten ist in "Q" wenig zu spüren. Die Städte, zumal die im Norden, bleiben Kulisse, die Schlachten und Scharmützel papierenes Konstrukt, die Liebeshändel steril.
Dennoch liest man das Buch rascher und leichter durch, als die schiere Seitenzahl vermuten läßt. Denn sein Held, jener Gert dal pozzo, dessen Name im Juli 2001 unter einem per E-Mail verschickten Demonstrationsaufruf zum G-8-Gipfel in Genua prangte, ist gewissermaßen in der gleichen Situation wie sein Leser: Auch er weiß vor lauter Predigern nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Also begnügt er sich damit, seine Haut zu retten, was die Begegnung mit den verschiedenen Globalisierungsgegnern des sechzehnten Jahrhunderts auf angenehme Weise abkürzt. So gleicht die Erzählung einem Fluß, der das angestaute Bildungsgut immer wieder fortschwemmen muß, um an sein Ziel zu gelangen. Am Ende, wenn unser Held im türkischen Exil weilt und heißen Kaffee schlürft, bedürfen wir der Erholung von den Glaubenskämpfen ebenso dringend wie er; aber es bleibt doch, über die Lektüre hinaus, eine Ahnung vom epochalen Drama jener Zeit, und das ist mehr, als man von den meisten Romanen dieser Gattung sagen kann.
Inzwischen hat sich das Autorenkollektiv aus Bologna einen neuen Namen zugelegt: Wu Ming, das bedeutet auf chinesisch "niemand". Wu Mings neues Buch, eine Chronik aus der Frühzeit des italienischen Fernsehens, ist schon zum Herunterladen freigegeben.
ANDREAS KILB
Luther Blissett: "Q.". Roman. Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. Piper Verlag, München 2003. 798 S., geb., 22,90 [Euro].
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