Vergleichbares in Bad Reichenhall, als am Allerheiligentag 1999 ein Sechzehnjähriger mit einem großkalibrigen Gewehr aus dem Waffenschrank seines Vaters auf seine Nachbarn feuert.
Man muß sich diese Fakten noch einmal ins Gedächtnis rufen, wenn ein solches Geschehen zum Stoff eines Romans wird. Zu leicht wäre sonst der Vorwurf des Effekthascherischen und fehlender Wahrscheinlichkeit bei der Hand. Denn was wäre hier unglaublicher als die Realität? Was diese Massaker so unwirklich erscheinen läßt, was sie in die Fehlfarben der Fiktion taucht, ist gerade die Vertrautheit ihrer Bilder: Was aus Videospielen und Vorabendserien bekannt ist, läßt sich nicht einfach so in der Wirklichkeit verorten. Die Taten folgen selber medialen Mustern, die jugendlichen Killer setzen in ihren Schulalltag um, was ihre Freizeit ohnehin schon ausfüllt: Am Anfang war die Action.
Wenn Alex in Marc Höpfners Debütroman "ich" sagt, verwendet er damit nur eine Art Sammelbezeichnung für ein ganzes Bündel von Haupt- und Titelrollen, die auf seiner inneren Leinwand täglich zu sehen sind. Seit seinem achten Lebensjahr hat "die Welt einen rechteckigen Rahmen". Die Suche nach "schönen Bildern", nach der Veredelung des ereignislosen Alltags zur strahlenden Filmkulisse bestimmt fortan sein Leben. Respekt bei seinen Freunden verschafft sich Alex konsequenterweise vor allem durch seine Virtuosität am Joystick und am Spielautomaten.
Nur einer ist noch besser: Sein Schulkamerad Alfred Oxenberger, genannt "Ox", ist der ungekrönte König der Ballerspiele, dem kein Highscore standhält. Ox ist ein baumlanger Kerl, der aber als verschrobener Außenseiter gilt und nur in der Welt der "Unbesiegbarkeitsphasen" und "Bonusleben" mit ihren künstlichen Hindernissen von niemandem aufzuhalten ist. "In einem richtigen Krieg wär er unschlagbar", sagt sein Freund Pauly, ein Kleinkrimineller, der mit Drogen dealt und so gern ein großer Pate wäre. Bei einer Kursfahrt in einen verschlafenen Wintersportort in den Schweizer Alpen deutet sich erstmals an, daß Ox, bis aufs Blut gereizt und umnebelt von den richtigen Substanzen, dazu übergehen könnte, auch in diesem unscharfen Bildschirmfenster namens Wirklichkeit bis zur "Game over"-Meldung am Drücker zu bleiben. Am ersten Schultag nach den großen Ferien schließlich nehmen Ox und Pauly gemeinsam vom alten Flakturm der Schule aus ihre Mitschüler aufs Korn. Acht davon werden nicht überleben.
Als Alex zu Beginn des Romans in seine Heimatstadt zurückkehrt, liegen diese Ereignisse vier Jahre zurück, und doch hat der grausame Film für ihn noch keinen Abspann gezeigt. Gefangen wie ein realer Charakter in einem fiktionalen Universum, das jenseits des Bildausschnitts keine Welt mehr kennt, kommt Alex von den Bildern der Toten nicht los. "Die Geschichte ist vier Jahre alt. Alles ist vier Jahre alt. Nichts ist vorbei." Auf dem Weg vom Flughafen zur Stadt wird sein Taxi in eine Massenkarambolage verwickelt, eine weitere Begegnung mit dem Tod, die "wie im Film abläuft". Doch Alex ist nicht mehr nur in seiner Phantasie ein Held; sein todesmutiges Eingreifen beendete damals das Blutbad und brachte ihn auf die Titelseiten der Zeitungen. Jetzt kehrt er zurück, weil er weiß, daß die Geschichte noch einen zweiten Teil verdient hat, ein Sequel, das den Titel "Racheengel" tragen könnte. Denn Alex ist überzeugt, daß damals mit Ox dem Falschen die Hauptschuld in die Schuhe geschoben wurde, während Pauly als die eigentliche treibende Kraft mit Entziehungskur und psychiatrischer Behandlung viel zu glimpflich davonkam. Ox hatte sich gegen seine Verurteilung kaum gewehrt und sich dann im Gefängnis selbst gerichtet.
Die Gewalttat bleibt allerdings auch in Alex' Version rätselhaft. Die Waffe, eine mörderische "Pumpgun", ist in doppeltem Sinne das Hauptmotiv des Buches. Sie stammte damals ursprünglich von Alex, der sie in jugendlichem Übermut dem psychisch gestörten Hausmeister der Schule gestohlen hatte. Wie die Waffe von Hand zu Hand geht, so zeugt sich der Kreislauf des Bösen immer weiter fort, ohne daß ein Anfang oder ein Ende abzusehen wären. Höpfner stellt implizit die Frage, wie sich von solch sinnloser Gewalt erzählen läßt, die sich nicht nahtlos in eine Geschichte einfügt, es sei denn, an die dafür vorgehaltene Planstelle. Dafür haben das Krimigenre und seine zahlreichen filmischen Ableger den Showdown erfunden, das Duell, das dramaturgisch alle Gegensätze auflöst. Hier wird der Finger am Abzug zum Medium der Entscheidungsfindung: er oder ich, gut oder böse, Tragödie oder Komödie. Alex kehrt zurück, um in seinem Rachefeldzug gegen Pauly der Gewalt einen sinnvollen Platz anzuweisen: "Plötzlich weiß ich, was ich will: Ich will, daß es so bleibt. Ich will, daß es knallt. Bang Bang."
Doch fügt dies die Schüsse nur in ein narratives Muster, nicht in eine moralische Ordnung. Ox las während des Schulausflugs Lermontows Roman "Ein Held unserer Zeit" und erkannte im Schicksal des moralisch indifferenten Offiziers Petschorin, der bei einem farcehaften Duell einen ungefährlichen Nebenbuhler tötet, ein Todesurteil über die aus den Fugen geratene Wirklichkeit: "Es ist Schwachsinn, niemand gewinnt." Ebenso wie Petschorin in den Augen seiner Zeitgenossen den Status eines Romanhelden erlangt, stilisieren sich die Widersacher nach filmischen Vorbildern. Von Pauly, der zur Gelatinefrisur eine Sonnenbrille trägt, heißt es, er sei "ein großer Stilist und garantiert durch die harte Schule des Mafiafilms gegangen". Alex wiederum wählt das Modell des Gerechtigkeitsfanatikers, wie er mit Robert de Niro bei Scorsese ins Bildgedächtnis eingegangen ist. Kein Zufall, daß Alex gerne Taxi fährt. Eine wilde, tödlich endende Autofahrt, die Alex mit seiner Jugendliebe Do unternimmt, folgt den Reifenspuren von "Bonnie and Clyde". Doch wenn Höpfner populäre Mythen zum Gerüst der Erzählung macht, hebt er den Ernst des Geschehens nicht wie viele seiner Kollegen in metafiktionalen Vexierspielen auf. Das erinnert an Romane Stewart O'Nans wie "Engel im Schnee" oder "Speed Queen", mit denen "Pumpgun" den Verzicht auf definitive Antworten teilt.
Zweifellos hat dieses Debüt auch Schwächen. So verschwinden wichtige Figuren des ersten Teils aus dem Blickfeld, wie Max, mit dem Alex zusammen die Waffe entdeckt. Auch wenn Halbwüchsigen das Leben wie ein Film vorkommt, in dem man sich mit Gewalt eine Hauptrolle verschaffen kann, irritiert es, wenn sie sich in filmreifen Wechselreden unterhalten. Wie seine großspurigen Helden versucht Höpfner mit Lautstärke und Kraftausdrücken Eindruck zu schinden; die "Pumpgun" ist auch Inbegriff eines Erzählens mit Knalleffekt, das um der Wirkung willen eine große Streuung in Kauf nimmt. Dennoch darf man dem Roman nicht vorwerfen, daß er sich der Macht der Muster auch auf formaler Ebene annähert, da er sich ihr nicht wehrlos ausliefert. Es gibt Vorbilder, die verlangen eben mehr Tribut, als man zu Beginn zollen wollte: Auch Alex versucht seiner Rolle zu entkommen, doch noch seine Flucht mit Do folgt einem bekannten Drehbuch. Höpfner weiß, daß sich auf dem Highway der Genrekonventionen strafbar macht, wer das Tempo drosselt.
Marc Höpfner: "Pumpgun". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2001. 245 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main