als Naturwissenschaft konzipierte.
Zwei interessante Vorstöße in diese Richtung wurden dem deutschen Publikum in letzter Zeit präsentiert - zum hundertsten Geburtstag der "Traumdeutung" (1900) erschienen ein Essay von Jean Starobinski und jüngst ein Buch der Berliner Literaturwissenschaftlerin Paola Traverso, das sich programmatisch auf Starobinski bezieht. Mögliche Gefahren und Erträge eines solchen Vorgehens lassen sich an beiden Texten gut aufzeigen, weil sie denselben Ausschnitt des Freudschen OEvres (eben die "Traumdeutung") mit derselben antiken "Quelle" konfrontieren (der "Äneis" des Vergil) und dabei sehr vergleichbare Arbeitshypothesen verfolgen: Freud habe das dem Vergilschen Epos entnommene Motto der "Traumdeutung" nicht nur nachträglich zur Bebilderung seiner Theorie gewählt. Der ganze Kosmos der antiken Mythologie und eben insbesondere dies geflügelte Wort hätten formgebend in Freuds psychologische Konzeption des Traumes eingegriffen.
So vergleichbar das Thema, so unvergleichlich die stilistische Brillanz, die intellektuelle Klarheit und Kürze des Starobinski-Essays. Nach wenigen Zeilen ist das titelgebende Motto "Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo" auch dem des Lateinischen nicht mächtigen Leser verständlich und die Rolle, die es in der Traumdeutung spielt, klar umrissen: Vergils "Weigern's die da droben, so werd ich des Abgrunds Kräfte bewegen" symbolisierte für Freud, wie Traverso behauptet und Starobinski unmißverständlich zeigt, den Umweg, den das Begehren einschlagen muß, wenn der gerade Weg "versperrt" ist, mithin die Arbeit, die der Traum leistet, um den infantilen Wunsch des Träumers zu entstellen, kurz gesagt: den Weg seiner Verdrängung. Ihm gegenüber steht die von Freud als Königsweg zum Unbewußten bezeichnete Traumdeutung: Durch eine Analyse seiner Verschiebungen und Entstellungen rekonstruiert sie den verdrängten Wunsch. Während das "Acheronta movebo" also dessen irrationale Kraftentfaltung repräsentiert, dient die Traumdeutung seiner Aufklärung.
Starobinski erweist sich in diesem Zusammenhang nicht nur als der elegantere Stilist, sondern vor allem als der bessere Freud-Kenner. Denn bei Traverso, die sich eng an Starobinskis Aufsatz anschmiegt, führt eine Unzahl von philologischen Querverweisen und Nebengedanken - allein das zentrale Kapitel zur Traumdeutung überfrachtet etwa dreißig Textseiten mit 125 Endnoten! - zu der letztlich falschen Vorstellung, Freud habe sich über die Gestalt des Äneas auch mit der Sprecherposition des Vergilschen Verses identifiziert. Selbst wenn man die zur Erkenntnisgewinnung vorgenommene Reise des antiken Sagenhelden durch die Unterwelt ("katabasis"), so wie Traverso, als Vorbild für Freuds Selbstanalyse (das Fundament seiner "Traumdeutung") verstehen möchte, läßt sich doch die sogenannte "prometheische" Deutung des Vergilverses kaum halten: Die für Freud kränkende Ablehnung seiner Theorien durch die zeitgenössische Medizin hätte ihn dieser Logik gemäß zu einer Verherrlichung des Verdrängungsmechanismus getrieben. Nichts aber ist dem Arzt Freud weniger zu unterstellen, der die Verdrängung unbewußter Wünsche gerade als Ursache hysterischen Leids entdeckt hatte.
"Psyche ist ein griechisches Wort und lautet in deutscher Übersetzung Seele", schreibt Freud in einem vorpsychoanalytischen Aufsatz, dem der Titel des Traverso-Buches entnommen ist. Unter psychischer Behandlung sei eine Behandlung mit Mitteln zu verstehen, die "unmittelbar auf das Seelische des Menschen einwirken". Ein solches Mittel sei "vor allem das Wort". Über weite Strecken des Buches scheint es, als habe sich Traverso von einem noch an die Macht von Hypnose und Suggestion glaubenden Freud bei ihrer Freud-Exegese auf die falsche Fährte locken lassen. Sie schreibt den griechischen und lateinischen Zitaten, die Freud gesammelt habe wie antike Statuetten, eine ähnlich unvermittelte Macht über den Geist des Psychoanalysebegründers zu, wie sie die Worte des hypnotisierenden Arztes nach Ansicht des jungen Freud über seine hysterischen Patientinnen besaßen.
Aus diesem Grund kann sie auch die richtige Intuition nicht plausibel machen, daß die Psychoanalyse gleichzeitig den psychologischen Gehalt der antiken Mythologie aufgedeckt - der Homerische Hades als Vorahnung des Unbewußten - und der Psychologie eine mythologische, sprich: narrative Dimension erschlossen hat. Denn letztere hat nichts mit primitiver Wortmagie zu tun, aber sehr viel mit der umständlichen Wiederaneignung der eigenen Lebensgeschichte oder, wie es bei Starobinski heißt, mit der "Verwandlung der Ereignisse in Erzählungen".
Paola Traverso: ",Psyche ist ein griechisches Wort . . .'". Rezeption und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud. Aus dem Italienischen von Leonie Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 301 S., br., 11,- [Euro].
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