- geborene Nachfahre weist auf ein Problem hin: "Es wäre nicht möglich gewesen, meinen Ururgroßvater väterlicherseits zu seinen Lebzeiten in ebendieser Terminologie zu beschreiben. Das zeigt aber nicht, daß er nicht dieselbe Person war wie Clarence Herbert Davidson aus Inverness."
Heute müssen wir dem schottischen Rabenvater dankbar sein. Denn sein vor drei Jahren gestorbener Ururenkel ist einer der bedeutendsten Sprachphilosophen des zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Das Dilemma, das er 1987 in seinem Aufsatz "Probleme der Handlungserklärung" am Exempel seines Vorfahren beschrieb, zeigt, daß für das Verständnis von Handlungen deren kausaler Charakter entscheidend ist. Dadurch werden sie einer eindeutigen Erklärung zugänglich, die in ihrer Struktur naturwissenschaftlichen Erklärungen gleicht, obwohl sie selbst psychologischer Natur sind und also jeweils auf den Akteur bezogen individuell. Gleiches gilt für das Denken und für die Sprache. Doch vor allem individuellen Verstehen gibt es bereits eine gemeinsame Basis der Menschen: Unsere Grundwerte als Menschen und unser Blick auf die Welt sind gegeben - als "Lebensweise", wie Davidson es nennt. Doch es bleibt für das Verstehen noch die Frage nach den Absichten des Sprechers, oder mit Pontius Pilatus gesprochen: Was ist Wahrheit?
Dieser Frage rückt Davidson zu Leibe. Er sieht in den zugrundeliegenden "propositionalen Einstellungen" - Überzeugungen, Wünschen und gemeinten Bedeutungen - Variablen, die auf der Grundlage einer Theorie derart bestimmt werden können, daß die Interpretation der Worte eines Sprechers möglich wird. Das klingt kompliziert, und so ist es auch. In seinem Aufsatz "Eine Einheitstheorie über Gedanken, Bedeutung und Handlung" entwickelt Davidson eine formalisierte Beschreibung seiner Methode, die eine empirische Messung von Erwünschtheit und subjektiver Wahrscheinlichkeit aller Sätze gestattet, so daß es möglich ist, das Ausmaß der Überzeugung zu bestimmen, das hinter einer Äußerung steht - also nicht weniger als deren Wahrheitsgehalt.
Zusammengetragen sind diese Überlegungen und die Vorstufen dazu in dem postum zusammengestellten Band "Probleme der Rationalität". Er umfaßt Arbeiten, die seit 1977 einzeln publiziert wurden. Aber die zahllosen Verweise auf die eigenen Schriften beweisen, wie konsequent Davidson in der kleinen Form am Aufbau seines großen sprachphilosophischen Systems arbeitete.
Er war ein Meister des genauen Ausdrucks, was sich seiner Faszination für Logik und der Bekanntschaft mit Carnap und W. F. Quine verdankt. Zudem fiel die Entscheidung Davidsons für das Studium der Philosophie spät; zunächst widmete er sich der englischen Literatur, und dann sattelte er auf Altphilologie um. In einem erstaunlichen Gespräch mit seinem Kollegen und Schüler Ernie Lepore, das den Band beschließt, erfährt man einiges über eine Karriere, die so langsam in Gang kam, daß jeder Studienberater sich entsetzen müßte. Doch die Begeisterung für das Altgriechische begründete Davidsons Interesse für die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache, und in der Lektüre von Xenophon und Platon lag der Keim für die kommende philosophische Beschäftigung.
Davidson hat nie großen Wert auf eine Zugänglichkeit seiner Texte gelegt, die sich aus anderem ergeben würde als der Präzision seines Schreibens (deshalb ist es schade, daß das Lektorat bei der ansonsten vorzüglichen Übersetzung von Joachim Schulte ein paar fehlende Wörter übersehen hat und einmal versehentlich gar der Begriff "Wahrheit" statt "Armut" steht, was zu dem für Davidson buchstäblich undenkbaren Satz führt: "Es ist wünschenswert, die Wahrheit zu beseitigen"). Er selbst spottet über seinen Stil: "Die Exerzitien eines Philosophen brauchen nicht schon deshalb falsch zu sein, weil sie blaß und rational sind."
Selbstverständlich aber ist Davidson viel zu sehr geprägt durch den amerikanischen Pragmatismus, als daß er sich in seinem eigenen Bemühen um die Verbindung von Theorie und Empirie nicht auch um die Veranschaulichung durch Beispiele bemühen würde. Aber erst in den letzten Jahren fließt in seine Texte etwas von jener akademischen Disziplin ein, mit der er begonnen hatte: In dem 1997 veröffentlichten Aufsatz "Wer wird zum Narren gehalten?" findet sich eine lange Erörterung zweier literarischer Texte, des "Ulysses" von James Joyce und Flauberts "Madame Bovary".
An der im "Ulysses" erzählten Behauptung von Stephen Daedalus, Shakespeare habe sich über den Charakter seiner Frau getäuscht, und an Madame Bovarys Flucht in eine romantische Parallelwelt erläutert Davidson die Strukturen des Selbstbetrugs. Daß diese Frage für einen Philosophen, der die Wahrheit von Aussagen bestimmen will, von großer Relevanz ist, bedarf keiner Erklärung. Interessant ist jedoch hier, wie Davidson unter der Hand aus dem Selbstbetrug der literarischen Figuren einen Selbstbetrug ihrer Autoren herleitet. "Flaubert und Joyce", erklärt er, "bilden ein sonderbares Paar: zwei Gefühlsmenschen, die so tun, als wären sie Realisten." Das aber ist, weil gewollt, noch nicht der Selbstbetrug.
Davidson will auf etwas anderes heraus: Beide Schriftsteller halten sich selbst zum Narren. Flaubert war, entgegen dem notorischen Zitat, nicht Madame Bovary, und Joyce verlangte für sein Schreiben, daß seine eigene Frau sich einen Liebhaber nahm, damit er diese Erfahrung überhaupt glaubwürdig in Worte fassen könne - hier liegt der Selbstbetrug darin, zu meinen, man könne einen Selbstbetrug simulieren.
Davidson hat klargestellt, daß man nicht daran glauben kann, daß etwas der Fall und zugleich nicht der Fall ist; das schließt die Rationalität aus, die er als dem Menschen wesentlich erkennt. Dagegen ist es durchaus möglich - Davidson belegt es mit perfidem Vergnügen an den Aussagen Ronald Reagans im Iran-Contra-Skandal - zu glauben, daß etwas nicht der Fall ist, von dem man weiß, daß es der Fall ist. Davidson postuliert dazu einen "geteilten Geist" als "das Bild eines einzigen, aber nicht ganz integrierten Geistes: eines Gehirns, das unter einer vielleicht vorübergehenden, selbst bewerkstelligten Lobotomie leidet".
Diese Formulierung darf man wohl mit Fug als boshaft bezeichnen, aber sie bietet eine gute Beschreibung des Selbstbetrugs, den es bei einem mechanischen Verständnis von Rationalität ja gar nicht geben dürfte. Zudem erweist sich Davidson hier auch wieder als Materialist - ein Zug, der sein ganzes Denken entscheidend bestimmt hat. Mit ihm ist 2003 ein Philosoph gestorben, der weitergedacht hat, wo andere aufgehört haben, und der weiter gedacht hat, als andere jemals gewagt haben. Und das wußten wir übrigens auch schon zu seinen Lebzeiten.
Donald Davidson: "Probleme der Rationalität". Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 446 S., geb., 28,- [Euro].
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