2018 die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommt, beschließt er das zu tun, was er immer tat - weiterarbeiten. Von heute an ist "Post mortem" (verlegt bei C. Bertelsmann) im Buchhandel.
Eigentlich plante Jürgs eine Romanbiographie über die Enkelin Theodor Fontanes, die Schauspielerin Thea de Terra. Aber dann hatte doch das eigene Ableben Vorfahrt. Überhaupt Fontane: Ein "Zeitungsschreiber", der ins Romanfach wechselte. Während Jürgs nach seinem Rauswurf als "Stern"-Chefredakteur - er hatte die Wiedervereinigung nicht so toll gefunden und das den Lesern unter der Überschrift "Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?" mitgeteilt - zum Sachbuchautor umschulte und erfolgreich war.
Der Untertitel verspricht an sich Unmögliches: "Was ich nach meinem Tod erlebte und wen ich im Jenseits traf." Thanatographie - ein Spiel? Zumindest eine spielerische Versuchsanordnung, das Denkunmögliche mit Hilfe von Phantasie für ein paar Lesestunden zur Seite zu schieben. Still ist es im Jenseits. Aber immerhin gehen alle, die sich im Leben nicht leiden konnten, friedlich miteinander um. Alle können die Gedanken ihres Gegenübers lesen, es sei denn, man denkt rechtzeitig daran, diese zu verschlüsseln. Dolmetscher braucht man nicht, alle sprechen ihre Sprache und verstehen einander; alle sehen so aus wie an ihrem Todestag. Gott könnte schon da sein, wurde aber noch nicht gesichtet.
So trifft der Neuankömmling zunächst die Protagonisten seiner Familiengeschichte, die für ihn am 4. Mai 1945 im schwäbischen Ellwangen begann. Bald sitzt er als Ministrant an der Orgel neben dem Großvater und wird von seiner geliebten Großmutter bemuttert, weil die ihren neunzehnjährigen Sohn im Krieg verloren hat. Der andere Großvater: ein praktizierender Katholik, der sich weigert in die NSDAP einzutreten, aber zweimal freiwillig in den Krieg zieht. Mit der Großmutter spricht Jürgs über ihre Alzheimer-Erkrankung. Seine Eltern trifft er wieder, den protestantischen Vater, der in einen katholischen Clan eingeheiratet hatte, seine temperamentvolle Mutter.
Und er trifft den künstlerisch begabten jüngeren Bruder, der an Schizophrenie erkrankt war und der sich am Tag nachdem er aus der Psychiatrie entlassen worden war, in seinem Kinderzimmer mit Schlaftabletten das Leben nahm. Natürlich haben sich Eltern und Sohn längst gesehen, aber über den Selbstmord sprechen konnten sie auch als Tote nicht. Die Gründe für den Suizid muss der neu hinzugekommene ältere Journalisten-Bruder aufklären. Aus Angst vor einem Rückfall, zurückzumüssen in die geschlossene Abteilung, habe er dieses Leben vor der Zukunft retten müssen, sagt der Bruder.
Die katholische Kirche hat Jürgs verlassen, aber seine christliche Grundierung ist deutlich spürbar. In einem seiner letzten Interviews sagte er, es berühre ihn, wenn Bekannte und Freunde für ihn beteten. Er selbst hat im Sterben sein Leben in die eigenen Hände genommen. Er habe sich "psychisch selbst behandelt, mit Erinnerungen aus meinem Leben, statt mich mit Psychopharmaka ruhigstellen zu lassen". Seit in der griechischen Sage Orpheus seine verstorbene Frau Eurydike aus dem Hades befreite, sind Abstecher in die Unterwelt ein Topos in den schönen Künsten. Der stets von Neugier befeuerte Jürgs dreht das Verfahren auf originelle Weise um: "Die von Reportern im Diesseits an berühmte Zeitgenossen oft gestellte Frage, welche historische Person sie gern interviewen würden, falls denn so etwas möglich wäre, ist im Jenseits kein Spiel mit Konjunktiven, sondern machbar."
Der Autor macht reichlich Gebrauch von dieser Möglichkeit und geht schnurstracks auf weltberühmte Tote zu. Er trifft Gutenberg in der Werkstatt und erzählt gleich noch die Geschichte des Buchdrucks mit - wohl ein Bekenntnis des lebenslang leidenschaftlich Zeitungen und Bücher verschlingenden Jürgs. Picasso, der nach seinem Tod wieder zu rauchen begonnen hat, empfängt den Journalisten in seinem Atelier, Shakespeare trifft er in einer "Hamlet"-Aufführung des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Er spricht ihn mit "Sir" an, und erfährt, der Dramatiker hätte Winston Churchill gern in der Rolle des Falstaff gesehen. Auch im Fall Albert Einsteins bekommt der Reporter ein Einzelgespräch.
Er besucht ein All-Stars-Konzert mit Freddie Mercury, erlebt die zwei toten Beatles, Elvis Presley, Jim Morrison, Michael Jackson und Amy Winehouse. Er hört live Mozart, Bach, Beethoven und Brahms. Die Tür zum Club der toten Dichter öffnet ihm die Ende Mai verstorbene Judith Kerr, drinnen debattieren Novalis, Jane Austen und Dostojewski, Kipling ist da, Sartre, Neruda, Beckett, Canetti, Böll, Thomas Mann, Kafka, aber auch Unterhaltungsschriftstellerinnen wie Françoise Sagan und Rosamunde Pilcher nehmen am Clubleben teil. Ebenso Günter Grass, über den Jürgs 2002 eine Biographie schrieb und sich vier Jahre später mit dem Nobelpreisträger einen heftigen Disput lieferte, als der seine SS-Vergangenheit bekanntmachte. Später, erinnert sich Jürgs, habe man sich wieder vertragen.
Die Folgen der Hitler-Barbarei in der Nachkriegszeit ziehen sich wie ein roter Faden durch die Jenseits-Tour. Mitte der sechziger Jahre begann Jürgs selbst die Zeitgeschichte publizistisch zu begleiten. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde er Feuilleton-Chef der Münchner "Abendzeitung", machte in den Siebzigern bei Gruner und Jahr Karriere.
Fünf Jahrzehnte hat er sein Heimatland schreibend begleitet, in "Post mortem" begegnet er vielen, die er im Leben gekannt hat: Willy Brandt, Helmut Kohl, Rainer Werner Fassbinder, Uschi Obermaier, Karl Lagerfeld. Aber wer auf Klatsch und Nachtreten wartet, wird enttäuscht, vor allem die Abteilung journalistischer Selbstdarsteller ignoriert Jürgs komplett. Ein Register fehlt ebenso wie eine Danksagung oder eine Widmung.
"Augstein trug als Einziger keine Krawatte und sah neben den anderen aus wie ein großes Kind, das sich unter Erwachsene verirrt hat." - Einmal kommt seine Branche dann doch vor, bei einem Podium mit den "heiligen Monstern" des Zeitungs- und Magazingeschäfts. Es treten auf Axel Springer, Franz Burda, Henri Nannen, Rudolf Augstein und Gerd Bucerius. Reinhard Mohn hat abgesagt. Moderation: Roger Willemsen. Da wird noch einmal aufgewärmt, dass der Spiegel-Herausgeber der "Zeit"-Chefredakteurin Marion Gräfin Dönhoff einst einen Porsche schenkte. "Ein Tempolimit hat sie ja nie interessiert", erinnert sich Augstein, der als Wohltäter gewürdigt wird wie die anderen Herren auch.
Namen sind Nachrichten, aber passagenweise übertreibt es Jürgs mit dem Fallenlassen derselben. Angesichts der fortgeschrittenen Krankheit ist das eine lässliche Sünde. Man staunt über den Willensakt eines Sterbenskranken, wie lustvoll Jürgs seinem Schreibaffen noch einmal Zucker geben konnte. Sein Jenseits ist eine erlesene Veranstaltung. Eine, bei der für neugierige Verstorbene nachgerade paradiesische Zustände herrschen. Und Gerechtigkeit herrscht auch: Tyrannen und Diktatoren vom Schlage Hitlers, Stalins und Maos reden dort unentwegt, hören sich selbst aber nicht mehr sprechen und müssen stattdessen bis in alle Ewigkeit die Todesschreie ihrer Opfer hören.
Mit Ratschlägen und Weisheiten für die Nachwelt hält sich Michael Jürgs betont zurück. Vielleicht so viel: "Glaubhaft Anmutendes muss in Journalisten grundsätzlich Zweifel wecken." Darunter fällt auch seine eigene Ansage, er sei nun nicht mehr "erreichbar". Aber man kann es ja mal versuchen.
HANNES HINTERMEIER
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