Gerechtigkeit widerfahren ließ, hat über Newell ein Wort verloren.
Er war wohl zu erfolgreich in einem anderen Metier: dem Kinderbuch. Newell fertigte Illustrationen für die amerikanischen Ausgaben der Bücher von Lewis Carroll an und verfasste eigene Geschichten, die er dann in solch ungewöhnliche Bilderbücher umsetzte wie "Das schiefe Buch", das die wilde Abfahrt eines Kinderwagens dadurch besonders eindrucksvoll darstellt, dass das ganze Buch als Raute gestaltet ist, also die Seiten nach rechts und links zu kippen scheinen. Vor zwei Jahren ist es auf Deutsch im Bajazzo Verlag erschienen, angeblich als Entdeckung von Roger Willemsen, aber der dürfte seine Kenntnis einem Aufsatz des Berliner Zeichners Atak verdankt haben, der bereits 2004 im "Magazin" über Newells Werk geschrieben hatte. Nun könnte ein deutscher Verlag eigentlich auch noch "The Rocket Book" von 1912 übersetzen: ein Buch mit einem Loch in der Mitte aller Bilder, durch das ein Feuerwerkskörper gerauscht ist. Der italienische Verlag Orecchio acerbo, auch verantwortlich für die Neuausgabe von "Das schiefe Buch" (Bajazzo war Lizenznehmer), hat es im vergangenen Jahr wieder aufgelegt, und in Frankreich ist es auch schon greifbar.
Als drittes Buch hat sich der italienische Verlag nun "The Naps of Polly Sleepyhead" angenommen. Das ist insofern eine größere Leistung als die ersten beiden Titel, weil die einzelnen Folgen bislang jeweils nur im Zeitungsformat gedruckt worden waren - und das vor 103 Jahren. Um eine ordentliche Farbreproduktion zu ermöglichen, wurden deshalb alle aus den alten Vorlagen übernommenen Bilder digital restauriert. Wie aber sollte man mit dem Format umgehen? Zeitungsseitengroße Bilderbücher wecken normalerweise keine Begeisterung.
Die Lösung lag in einem einerseits barbarischen, andererseits genialen Vorgehen. Die jeweiligen Folgen wurden in ihre Einzelbilder aufgeteilt, und jedes davon bildet nun eine Seite in einem kleinen, kompakten, quadratischen Buch namens "Pollys Traumabenteuer" mit nicht weniger als 288 Seiten. Wobei nur die Hälfte, nämlich immer die rechte Seite, ein Bild bietet, während links ein bilderbuchartiger Text steht. Und obwohl die Bilder eigentlich nicht in genau gleich großem Format gezeichnet waren, muss man konzedieren, dass dieses Verfahren dem Original gerecht wird, weil Newell noch nicht mit Sprechblasen gearbeitet hat, sondern das Geschehen tatsächlich klassisch als Begleittext anlegte, wie er es als Bilderbuchzeichner ja auch gewohnt war.
Aber taugt ein in seine Einzelteile zerlegter Comic als Kapitel eines Bilderbuchs? Ja. Denn Newell hat seine Geschichten, die immer darin bestehen, dass die kleine Polly einschlummert und dann im Traum aus ihren letzten wachen Eindrücken wilde Erlebnisse entstehen, narrativ als so traumverloren angelegt, dass die abrupten Wechsel durch das Seitenumblättern genau dem Prinzip des unerwarteten Anschlusses in Träumen entsprechen.
Zudem kann man gar nicht genug dafür danken, dass man diese Perle wiederentdecken kann. Auch wenn Newell die Grundidee von Winsor McCay geklaut hat, der 1905 mit "Little Nemo in Slumberland" einen solchen Erfolg hatte, dass es sofort zahlreiche Nachahmer gab (neben Newell wäre vor allem noch der gleichfalls vergessene William J. Steinigras mit seinem Comic "The Bad Dream That Made Bill a Better Boy", gleichfalls von 1906, zu nennen), ist die zeichnerische Leistung doch immens: keine seitenarchitektonischen Exzesse wie bei McCay, sondern ruhige Episoden in europäischer Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, die aber zugleich in den Hintergründen die ganze häusliche Welt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wiederaufleben lassen. Da gibt es in der großbürgerlichen Wohnung von Pollys Familie japanische Rollbilder an den Wänden, das Mobiliar ist Jugendstil und die Kleidung Fin de Siècle. Man möchte kaum aufhören zu schauen.
Was aber das Schönste ist: Die Phantasie von Peter Newell schlägt die wildesten Kapriolen. Da werden die Rollen zwischen Puppe und Puppenmama verkehrt, ein Hund bekommt eine Eiskugel als Hut aufgesetzt und läuft fortan auf zwei Beinen wie ein feiner Herr (bevor er schmilzt), oder eine Kuh erweist sich im Traum als grotesk verzerrtes Monster. Newell spielt vor allem mit Proportionen, die die kindliche Perspektive auf die Welt zur Grundlage haben, und mit der großen Neugier eines kleinen Mädchens, wenn die auch nur in Pollys Träumen zu ihrem Recht kommt. Das Faszinierendste aber ist, dass all diese Geschichten (siebzehn von fünfzig bietet das Buch insgesamt, und erfreulicherweise ist es als erster Band betitelt) ursprünglich für erwachsene Leser gezeichnet waren, aber heute allemal als perfektes Kinderbuch erscheinen.
ANDREAS PLATTHAUS
Peter Newell: "Pollys Traumabenteuer". Aus dem Englischen von Peter Jacoby. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin 2009. 288 S., geb., 14,95 [Euro]. Ab 5 J.
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