der Bereich der Politik, gerade als wären alle Entscheidungen auf der kommunalen Ebene per se "unpolitisch" und "rein sachlicher Natur". Diesem Desiderat wendet sich Jaromír Balcar mit einer Studie über die lokale und regionale Politik in der bayerischen Provinz zu. Elf der einstmals 143 bayerischen Landkreise bilden den Gegenstand einer Untersuchung, die sich zum Ziel setzt, die basisnahen politischen Eliten, die Ausbreitung der Volksparteien CSU und SPD in den ländlichen Raum und schließlich das politische Handeln auf dem Land zu analysieren. Es waren dies die Landkreise Landsberg am Lech und Wasserburg am Inn in Oberbayern, Bogen in Niederbayern, Beilngries, Neumarkt und Roding in der Oberpfalz, Feuchtwangen und Rotenburg ob der Tauber in Mittelfranken, Königsfeld im Grabfeld in Unterfranken sowie Neuburg an der Donau und Nördlingen in Schwaben. Entscheidend für die Auswahl war, daß mehr als 50 Prozent der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft und weniger als 30 Prozent in Industrie und Gewerbe tätig waren; eine niedrige Bevölkerungsdichte und geringe Finanzkraft kamen als weitere Kriterien hinzu.
Den Untersuchungszeitraum begrenzen das Jahr 1945 mit der - wie Balcar es ausdrückt - Formatierung der politischen Festplatte Deutschlands durch die Alliierten und die Gebietsreform vom 1. Juli 1972 mit der tiefgreifenden Neuordnung gerade des ländlichen Raumes. Bei der Auswahl der Bürgermeister in Bayern knüpfte die amerikanische Besatzungsmacht an die erste deutsche Demokratie an. Es waren politisch unbelastete Männer, deren Sozialisation ausnahmslos im Kaiserreich und in der Weimarer Republik stattgefunden hatte. Sie entstammten der dörflichen Honoratiorenschaft und waren bis 1966 in der deutlichen Mehrzahl selbständige Bauern, die ihr Amt im Nebenberuf ausübten. Die meisten Bürgermeister der ersten Stunde wurden bei den Kommunalwahlen 1946 in ihrem Amt bestätigt. Überhaupt ist die Wiederwahlquote bis in die siebziger Jahre hinein außerordentlich hoch. Die parteipolitische Bindung der Ortsbürgermeister und Gemeinderäte war bis in die sechziger Jahre nicht ausschlaggebend für ihre Wahl, freie Wählergemeinschaften bestimmten weitgehend das Bild.
Eine entscheidende Rolle bei der Umgestaltung des ländlichen Raumes im Zeichen des "langen Abschieds vom Agrarland" konnten die traditionellen lokalen Eliten jedoch nicht spielen. Zu sehr waren sie geprägt von den Finanzkatastrophen der Zwischenkriegszeit und somit nicht bereit, finanzielle Risiken beim Ausbau der Infrastruktur einzugehen; Sparsamkeit galt als höchste Tugend. Ihre Kenntnisse des Verwaltungsrechts und ihre Einblicke in die Landes- und Bundespolitik reichten nicht aus, um selbst eine aktive Erschließungspolitik betreiben zu können, zumal sie ihren Amtsgeschäften nur in ihrer Freizeit nachgehen konnten. Ohne eigenen Apparat waren sie als Einzelkämpfer mit den bürokratischen Erfordernissen ihrer Ämter nicht selten überfordert.
Zu "Matadoren der Modernisierung" avancierten daher die Landräte. Durchweg deutlich jünger als die lokalen Amtsträger, waren sie Wahlbeamte, die keinem anderen Brotberuf nachgehen mußten. In den Kreisverwaltungen verfügten sie über einen eigenen, wenn auch kleinen Verwaltungsapparat. Sie besaßen durchweg einen höheren Bildungsabschluß und gehörten einer Partei, in der Regel der CSU, an, und nicht selten vertraten sie ihren Landkreis auch im Münchener Landtag. Viele der neuen Landräte hatten als Offiziere im Zweiten Weltkrieg Führungserfahrung gewonnen und waren daran gewöhnt, "die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, zu improvisieren, zu gestalten und zu verändern". Ihr Erfolg hing jedoch vor allem von guten Verbindungen nach München und Bonn ab sowie von einem wachen Sensorium für die Entwicklung der bundes- und landespolitischen Rahmenbedingungen.
Die Volksparteien CSU und SPD hatten mit der Durchdringung des ländlichen Raumes so ihre Probleme. Unabhängig von Bonn und München bestimmten freie Wählergemeinschaften das Bild auf dem Land. Die SPD konnte das Mißtrauen der ländlichen Bevölkerung letztlich nie ausräumen, obwohl sie sich seit den sechziger Jahren um die Beilegung ihres Dauerkonflikts mit den Kirchen bemühte und sich seit 1959 zur Marktwirtschaft bekannte. Ganz auf die städtische Arbeiterschaft konzentriert, unternahm die SPD noch nicht einmal den Versuch, die Arbeiterbauern für sich zu gewinnen. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums hielten die innerparteilichen Auseinandersetzungen zwischen der SPD und ihrer Jugendorganisation, die in München besonders scharf ausgetragen wurde, das Mißtrauen der Landbevölkerung wach. Aus diesem Grund mußte die CSU nach der bundespolitischen Wende von 1969 auf dem bayerischen Land keine Rückschläge erleiden. Schon vorher hatte sie es im Bündnis mit den Kirchen und dem Bayerischen Bauernverband verstanden, sich als die Partei des ländlichen Raumes zu etablieren. Ihre Funktionäre verstanden die Probleme und sprachen die Sprache der bäuerlichen Bevölkerung und erwarben so auch deren Wählerstimme.
Obwohl Balcar seine Schlüsse auf breiter statistischer Basis zieht, läßt er immer wieder durchblicken, wie viele Geschichten ihm im Verlauf seiner Forschungen begegnet sind. Die Miniaturen, die er einflicht, um "die Fassade der statistischen Eindeutigkeit zu durchbrechen, hinter der sich oft genug differenzierte Realitäten verbergen", machen seine lesenswerte Studie auch gut lesbar.
MICHAEL HOLLMANN
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