braucht, um Schatten zu werfen; auch der Blick aus der Vogelschau wird einem nur durch ein Loch in der dichten Wolkendecke zuteil.
Es ist die Toskana der fröstelnden Jahreszeit, die Innocenti beschwört: vor Regen glänzendes Pflaster enger Gassen, triefende Hausfassaden mit vorgelegten Läden, schüttere Schneereste auf steinernen Gartenstufen, Himmel, der die Farbe von Schwalbennestern hat - kalkig grau -, und windgepeitschte Herbstzeitlosen unter kahlen Ästen (an einem davon baumelt der aufgehängte Pinocchio). Endlich, auf zwei Doppelseiten, dann doch eines der berühmten hügeligen Panoramen, aber weder lieblich noch grün, sondern bis zum Horizont mit Schnee bedeckt. Einem dünnen gemeinen Schnee, unter dem noch jede Unebenheit des Bodens sichtbar wird. Den wenigen Personen, die in dieser weißen Welt unterwegs sind, ist anzusehen, wie schneidend der Wind ihnen durch Mark und Bein pfeift. Auch das ist die Toskana.
Die Strandansichten, steinernes Auf und Ab von bestrickender Unregelmäßigkeit, sind als Rückkehr in die Vor-Tourismus-Zeit, die Vor-Reklame-Zeit erlebbar. Wimmelbilder, wie aus einem tieffliegenden Ballon aus gesehen, zaubert Innocenti uns hin, und man muß suchen, ehe man den Ausreißer Pinocchio entdeckt, der es beinahe geschafft hat, dem Volksauflauf wie auch dem Bild selbst zu entkommen. Nebenbei wird einem so manches Originelle des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorgeführt: etwa der Abtritterker mit dem Fallrohr, die angeschmauchten häuschenartigen Abdeckungen der Schornsteine, die Waschfrauen am Marktbrunnen sowie vielfältige Arten, Lebensnotwendiges zu transportieren - ganz ohne Benzinverbrauch. Stärker vertreten als in der ersten Ausgabe sind die regionalen Typen, Charakterköpfe, von deren munterer Rhetorik im Buch und von deren lässiger Gebißpflege im Bild Beispiele zu finden sind.
Auf einem der neu hinzugekommenen Wimmelbilder hat Innocenti dem Fleiß der toskanischen Bevölkerung ein Denkmal gesetzt. Da wird Stroh um Weinflaschen gewickelt, werden Körbe geflochten, wird gestickt, gesponnen und geschmiedet. Der Maurer trägt seinen Mörtel im Bottich auf der Schulter, die Eierfrau und die Waschfrau balancieren ihre Körbe gar auf dem Kopf, die Kohlenmänner haben es wieder mal am schwersten, und inmitten der quirlenden Geschäftigkeit sitzt einer auf dem Pflaster und verziert Stück für Stück die Steinplatten mit kunstvollen Mustern. Pinocchio, der vor solchen erwachsenen Tagewerken noch zurückscheut, wird sich später in den Arbeitsprozeß dieser Tüchtigen eingliedern müssen.
Das Gran Teatro dei Burattini - Schauplatz von Pinocchios höchstem Entzücken und erster Stolperstein seiner guten Vorsätze -, das man sich bislang als eine Kreuzung zwischen dem Buchmesse-Spiegelzelt und dem Tadsch Mahal vorstellte, wird hier wahrscheinlicher. Eingezäunt von Hausfront, deren Erscheinungsbild unterschiedliche Stadien des Verfalls vorführt, paßt sich auch der Ort der Wunder der Schäbigkeit an. Und doch schwebt etwas um die großspurigen gelben Buchstaben und die abgestoßenen Aufbauten, das höchste Unterhaltung verspricht.
Man müßte für Roberto Innocenti das Wort "Atmosphäriker" erfinden, denn welche Beleuchtungskünste sind auch auf den Nachtbildern zu entdecken! Was er da aus Mond- und Laternenlicht, Kerzen- und Lampenschein herausholt, hat er sichtlich bei älteren Meistern gelernt. Auf dem allerletzten Bild sind wir in der Gegenwart angekommen. Mit einem alten Motorroller, der abgestellt wurde, denn in die Märchenwelt ist "Durchfahrt verboten". Aber das macht nichts, denn Pinocchios Schatten winkt schon.
KARLA SCHNEIDER
Carlo Collodi/Roberto Innocenti: "Pinocchio." Aus dem Italienischen übersetzt von Hubert Bausch. Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2005. 192 S., geb., 24,90 [Euro]. Für jedes Alter.
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