seine eigene Biographie für sich selbst hat, auch sie wandelt sich ihm unter der Hand zum Fatum. Er ist Provenienzforscher, hat eine deutsche Mutter, seinen leiblichen Vater aber hat er nie gekannt. Nun bringt ihn sein Beruf ins Berlin nach dem Mauerfall.
Dass niemandem seine Geschichte gehört, lautet das Credo von Barbara Bongartz. Sie hat es, als autobiographische Phantasie, bereits in "Der Tote von Passy" (2007) durchgespielt, der manischen Suche einer adoptierten Tochter nach ihren elterlichen Erzeugern; in der Personnage dort sind schon die Fährten zu "Perlensamt" ausgelegt.
Martin Saunders arbeitet, als er Perlensamt begegnet, in der Berliner Dependance eines amerikanischen Auktionshauses als Experte für Juwelen. Saunders, selbst mit der Wunde einer ungeklärten Herkunft versehrt, ist zunächst glücklich, weil er sich weitgehend abgekoppelt wähnt von heiklen Fragen nach Raub und Beute, nach Opfern und Tätern. Das Thema der nationalsozialistischen Raubkunst ersteht aber in Berlin vor ihm in Gestalt seiner reizvollen Kollegin Mona, die ihn um Hilfe bei einer Recherche bittet.
Auch Mona verfügt nicht über eine Ahnenreihe, wie sie in der Welt des Kunstmarkts - bei den Akteuren wie bei den Objekten - so viel zählt. Sie kommt irgendwo aus dem Ruhrpott und hat sich durch Willen und Intelligenz selbst erschaffen. Saunders erinnert ihr Aussehen an die sprühende Feinheit einer gotischen Plastik oder an die manieristische Beauté eines Porträts von Bronzino. Er könnte Mona begehren, legte er sich nur selbst Rechenschaft über seine geschlechtliche Präferenz ab. Stattdessen gerät er zwischen Mona und Perlensamt, als dieser ihn nach einer ersten Begegnung auffordert wiederzukommen: "Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich, ohne zu wissen, warum. Perlensamt war das, was man schön nennt. Das ist bei Männern noch faszinierender als bei Frauen, finde ich. Und verwirrender."
Was Barbara Bongartz gleichzeitig auf mehreren ineinander verschränkten Ebenen verhandelt, ist die prekäre Balance zwischen einfühlender Wahlverwandtschaft einerseits und Anverwandlung von fremder Identität, der Opfer oder - obszöner beinah noch - der Täter, andererseits. Es ist Mona, die das ausspricht: "Der wahre Familienroman handelt von Wahlverwandten. So werden Nazis zu Juden und Juden zu Nazis und Enkel zu Tätern und Täter zu Opfern und ganz gewöhnliche Leute zu Aristokraten. Durch Betroffenheit, nie gehört?" Eine bittere Frivolität schwingt in Monas Suada mit, in ihr liegt der Schlüssel zur Lösung auch von Perlensamts Geheimnis. Und längst stehen die Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten geraubt wurden und deren Provenienzen zu überprüfen sind, nicht mehr für sich, sondern sind Zeugnisse für das Schicksal ihrer Eigentümer. Die ungeklärte Herkunft einer Version von Gustave Courbets "La Vague" wird zum Anlass von Nachforschungen, bei denen die Filiationen eines unerhörten Vergehens ans Licht kommen. Barbara Bongartz dringt in die Sphäre der Raubkunst so weit ein, dass dieser Roman darin durchaus der Realität des Kunstgeschäfts nahekommt.
Als Martin Saunders zum ersten Mal Perlensamts Wohnung betritt, reihen sich an den Wänden Gemälde des neunzehnten Jahrhunderts in Petersburger Hängung, Bilder darunter, deren Verbleib als unbekannt gilt. David Perlensamt ordnet auf Saunders' Fragen hin diese Sammlung vage seinem Vater zu, lässt ihr problematisches Zustandekommen durchklingen, seine eigene Distanz dazu. Bei einem späteren Besuch, anlässlich einer Party bei Perlensamt, ist alle Kunst aus den Räumen verschwunden. Perlensamt geriert sich gleich einem Chamäleon, ein Verführer auch für Saunders, der seltsam getrieben beginnt, Schicht für Schicht dieser Person abzutragen, bis er hinter der Maskerade den Familienroman eines gefährlichen Neurotikers freilegt. Als Perlensamt seinen wirklichen Namen David Paul Viktor Abetz preisgibt, identifiziert er sich als Enkel und Erbe der Kunstsammlung von Otto Abetz, Ribbentrops Mann im von den Nationalsozialisten besetzten Paris: "Unser Familienname ist Abetz. Mein Großvater war Hitlers Botschafter in Paris." Aber auch das ist noch nicht der Kern einer gedoppelten Bastardstruktur.
Barbara Bongartz erzählt in raffinierter Tektonik und außerordentlich spannend. Im Gewand eines Kriminalromans scheut sie auch vor Elementen der Kolportage nicht zurück, ja macht sie zum Stilmittel; denn die Wahrheit hält sich oft nicht an die Spielregeln der Wirklichkeit. Fiktion vermischt sich mit Fakten in einem schwindelerregenden Hazard, so viele Stränge sind über Zeit und Raum ineinander verflochten. Am Anfang und am Ende, im Prolog und im Epilog, steht eine schreckliche Wolke über New York, deren Deutung offenbleibt. Aber alle Selbstgewissheit liegt ohnehin in Trümmern.
Barbara Bongartz: "Perlensamt". Roman. Weissbooks Verlag, Frankfurt am Main 2009. 319 S., geb., 19,80 [Euro].
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