durch starke temporale Erfahrungen führen.
Etwas mehr als zwei Jahre nach Tabucchis Tod ist mit "Für Isabel. Ein Mandala" der erste postume Text des Autors auf Deutsch erschienen. Es handelt sich nach seinen eigenen Worten um einen "sonderbaren Roman", den er 1996 in seinem Geburtsort Vecchiano (bei Pisa) zu einem vorläufigen Abschluss gebracht hat - die intendierte Überarbeitung hat Tabucchi nicht mehr vorgenommen, die Verlage Feltrinelli und hierzulande Hanser haben die Schubladenfassung publiziert. "Für Isabel" ist dennoch kein Fragment, sondern auf den ersten Blick ein weitgehend abgeschlossener und stilistisch stimmiger Text.
Erzählt wird von der Suche nach Isabel, einer jungen Portugiesin aus gutem Hause, die während der Diktatur studiert hat, in den kommunistischen Widerstand eingetreten und schließlich verschwunden ist. Gestorben? Untergetaucht? Ausgewandert? Der Roman gibt auf diese Fragen keine Antwort. Der Untertitel "Ein Mandala" verweist auf die Näherungsmethode: Der Ich-Erzähler zirkelt die Verschwundene (Tarnname: Magda) in Kreisen ein, die im Unterschied zum Mandala aber konzentrisch angelegt sind - "eine Kunstform wie viele andere auch", wie es an einer Stelle heißt.
Es kommen neun verschiedene Personen zu Wort: die Jugendfreundin, die Kinderfrau, der Gefängniswärter und so weiter, von Amarante (Nordportugal) über Lissabon und Macao bis nach Italien. Jede Figur bestreitet eine Binnenerzählung, mit ihr taucht der Leser ein in je zwei Existenzen, die Zeitschichten und -empfindungen, aus denen sie bestehen: Die Figuren geben ebenso viel über sich selbst preis wie über Isabel. Tabucchi entwirft nebenbei und im Negativ neun starke Charakterbilder.
Weniger fassbar ist allerdings der eigenmächtige Detektiv, Waclaw Slowacki, den seine Freunde nur Tadeus nennen. Er ist polnischer Herkunft und anscheinend ein ehemaliger Liebhaber aus Isabels Studienzeit; die Frage steht im Raum, ob sie damals von ihm schwanger wurde. So weit, so gut: Tabucchi ist ein großer Porträtist unsicherer Identitäten, wie Michael Krüger in seinem schönen Nachwort, das zugleich ein persönlicher Nachruf ist, zu Recht betont. Dieser Autor entwirft seine Figuren immer, um ihre Unbestimmtheit zu porträtieren: Seine Kunst besteht paradoxerweise darin, eine möglichst scharfe Unschärfe zu erzeugen.
In "Für Isabel" geht Tabucchi weiter. Slowacki behauptet, aus "der Gegend von Sirius" zu stammen, im Sternbild des Großen Hundes. Damit wird eine esoterische Ebene aufgemacht, die besonders gegen Ende überwiegt. Auf einmal spricht eine Fledermaus: "Hallo, Schöner, hast du Kontakt aufgenommen? Es war Magdas Stimme." Ein Opium rauchender Dichter hilft dem Suchenden auf visionäre Weise weiter. Das Ende wird vollends zum Totengespräch, es geht darum, dass der Mittelpunkt des einen das Nichts des anderen sei, dass Absolution erteilt wird; ein Geigenspieler mit weißem Zylinder macht den postkatholischen Zeremonienmeister.
"Mandalas muss man deuten" heißt es in einer Episode des Romans, die in den Schweizer Alpen spielt und im Zeichen von Hermann Hesse steht. An Letzteren erinnert der Roman denn auch ein wenig, wenngleich Tabucchi dem Verfasser des "Glasperlenspiels" den nüchternen Stil und eine treffsichere Ironie voraushat; anders als der vormalige Herr Xavier, jetzt ein östlicher Weisheitslehrer, will der italienische Schriftsteller sicher nicht "den Guru spielen". Dennoch, Tabucchi wagt sich in ein schwammiges Terrain, das seinen etwas konturlosen Figuren nicht immer guttut. Unschärfe zeigt sich am besten vor einem scharf konturierten Hintergrund. Man kann nur vermuten, dass eine letzte Fassung, die der Autor selbst publiziert hätte, dieser simplen Einsicht stärker Rechnung getragen hätte.
NIKLAS BENDER
Antonio Tabucchi: "Für Isabel. Ein Mandala". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Carl Hanser Verlag, München 2014. 176 S., geb., 16,90 [Euro].
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