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Längst ist in dieser Fiktion der kritische Geist verflogen, der zwischen dem Virtuellen und dem Leben noch eine unentbehrliche Distanz einzuklagen versuchte. Ergebnis ist der junge Arnold, der sich auf einer Reise von Berlin über Paris nach Athen befindet, um dort seine Freundin Odile wiederzusehen. Er artikuliert sich in meist knappen Hauptsätzen und gibt lakonische Statements von sich, die sich immer wieder einmal schlaglichtartig auf den prekären Zustand des Planeten und die punktuelle Belichtung seines Inneren beziehen. Arnold ist keineswegs von schlichtem Wesen, doch seine Kommunikation ist aufs Nötigste reduziert. Oftmals enden seine Unterhaltungen mit "Keine Ahnung". Seine Aussagen sind wie die der Erzählerinstanz durchweg ohne Ironie. Ironie erscheint ihm als sinnlose, veraltete Geste.
Man könnte den Roman als Liebesgeschichte lesen, wenn nur von der gelebten Beziehung etwas mehr übrig geblieben wäre als eine nüchterne Liste von Aussagesätzen wie "Ein halbes Jahr lang aßen sie morgens Brote", "Sie zogen sich aus, sie zogen sich an", "Sie schauten schlechte Dokus über Roboter" oder "Sie zogen sich gegenseitig aus". Meist scrollen die beiden Liebenden aneinander vorbei. Eine Hauptfigur kann Arnold nicht sein, macht er sich doch selbst klar, dass er höchstens "einer von 7,79 Milliarden Nebendarstellern" ist.
Goldhorn lässt das Coming-of-Age-Thema erst gar nicht aufkommen. Zu abgenutzt erscheint seinen Figuren das Potential von Individualität, das darin aufgehoben wäre. Lange sieht es so aus, als verlören sich Odile und Arnold aus Ratlosigkeit darüber, was sie mit einem gemeinsamen Leben, eingepflegt in die digitalen Suchfelder, anfangen sollten. In diesen Sphären wird ihnen alles gleich, nichts unterscheidet sich mehr in seinem Wert von etwas anderem, so dass auch die gegenseitige Anziehung dieser Egalität von Erscheinungen, Stimmungen und Ansichten verfällt. Doch als Arnold schon von Odile getrennt ist und in Athen auf seinen Rückflug wartet, gibt seine zufällige Begegnung mit einem Kunstwerk der Sache eine neue Wendung.
Hier hält man inne, denn diese unerwartete Intervention durch die Kunst ist so überzeugend gearbeitet wie zuvor die Bilder der Entwertung der inneren und äußeren Welt. Selten hat wohl ein Autor in jüngerer Zeit mit derart geringen Mitteln ein dermaßen dicht gewobenes Netz aus Bezügen zwischen den Versatzstücken der globalisierten Gegenwart, den Rückbezügen auf Stoffe und Motive aus der Geschichte des Romans und der bildenden Kunst sowie einer rudimentären und dennoch berührenden Choreographie der Figuren geschaffen, wie es Goldhorn in seinem Debüt gelungen ist. Der dystopische Bildbestand des Bewusstseins ist für Arnold zum Gemeinplatz geworden; sein Sich-treiben-Lassen durch die europäischen Hauptstädte umweht ein letzter Hauch des schalen Ennuis der Décadence. Die Unruhen auf den Straßen Athens, in die er gerät, lassen ihn auch dann kalt, als er kurzzeitig in Gewahrsam genommen wird.
Diese Hauptnebenfigur fasziniert dennoch, weil sie bei aller Einfachheit radikal ist und polarisierend auf Leser und Leserinnen wirken muss. Sie begegnet uns in einer Sprache, der jeder Stilwille abhandengekommen scheint und die dennoch immer wieder erstaunliche Formulierungen von großer poetischer Kraft hervorbringt. Auch wenn Arnold keine Ironie mehr duldet, so erzeugt sein Agieren als digitalisierter Simplizissimus an vielen Stellen einen sehr eigenwilligen Humor. Diese Spannungen als Kennzeichen der Gegenwart erlebbar werden zu lassen ist eine Kunst, die Marius Goldhorn in seinem Roman glänzend beherrscht.
CHRISTIAN SCHÄRF
Marius Goldhorn: "Park". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 179 S., br., 14,- [Euro].
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