- Vernichtung noch einen Abglanz fundamentaler menschlicher Werte aufscheinen lassen kann. Moralismus als Amoklauf (wie auch beim "Taxi Driver" Travis Bickle, dessen Drehbuch ebenfalls Paul Schrader schrieb), Narration als eskalierende (Selbst-)Destruktion, die mit dem bestehenden Sodom und Gomorrha reinen Tisch macht: Wo nur ist die Reset-Taste für diese verrottete Welt, die mich zu so einem kaputten Typen gemacht hat?
Gerade im Film, den wir hier großzügig als narrative Kunst seiner älteren Schwester, der Literatur, zugeschlagen haben, ließen sich zahlreiche weitere Vorfahren finden. Das Road Movie, die motorisierte Variante des alten Stationendramas, ermöglicht es dem Autor, seine Hauptfigur mit unterschiedlichsten, nicht unbedingt logisch verbundenen Situationen zu konfrontieren. Christian Kracht hat das 1995 in seinem epochemachenden "Faserland" vorgemacht. Thomas Klupp tritt nun vierzehn Jahre später in seine Fußstapfen oder besser Spurrillen, wenn er seinen Helden Alex Böhm, einen verkrachten Drehbuchstudenten aus gutbetuchtem Elternhaus, per Anhalter quer durch Deutschland schickt.
Reiste Krachts namenloser Ich-Erzähler mit Zwischenstopps auf dekadenten Schnösel-Partys von Sylt zum Zürichsee, macht sich sein Wiedergänger Böhm von Potsdam zum Münchner Flughafen auf, von wo aus er mit seiner neuen Freundin Johanna nach Portugal fliegen will. (Deutsche Road Movies verlaufen übrigens entweder von West nach Ost oder von Nord nach Süd, nie umgekehrt, also entweder in Richtung Fremde oder Richtung Heimat.)
Es ist Sommer, es ist heiß, auf deutschen Autobahn-Raststätten, die schon bei gemäßigten Temperaturen nicht sonderlich anheimelnd sind, kann man mit entsprechender Veranlagung leicht zum Misanthropen werden. "Über mir schnarrt ein Gebläse, das den Benzingeruch mit warmer Toilettenluft mischt", und während darunter Böhm vergebens auf seine Mitfahrgelegenheit wartet, macht er sich Gedanken über seine juckende und überempfindliche Haut, die diesen Außeneinflüssen ebenso wenig gewachsen ist wie seine überreizte Psyche der Begegnung mit Mitmenschen. Die er schon zum Zwecke der Fortbewegung aber nicht vermeiden kann.
Böhm leidet unter der unheilbaren Schuppenflechte ebenso wie unter seinem ununterdrückbaren Drang zu Täuschung, Lüge und Hochstapelei (dem auch schon Salingers Holden Caulfield nachgab). Seine Ex-Freundin ließ er in dem Glauben, er brauche wegen einer Identitätskrise nur eine kurze Beziehungspause; den wechselnden Fahrern, die ihn aufgabeln, erzählt er frei erfundene Geschichten über seine Karriere als Drehbuchautor; und der wartenden Johanna schickt er eine SMS-Nachricht über einen angeblichen Autounfall, um einer Einladung zu ihren Eltern zu entgehen. Zu Silvester hatte sich Böhm vorgenommen, von nun an freundlicher über andere Menschen zu denken. Nun geht er mit einer naiv-hippiehaften Unterwegsbekanntschaft, die ihn bis in seine oberpfälzische Heimatstadt kutschiert hat, in ein Prolo-Café. Dann macht er sich heimlich aus dem Toilettenfenster davon.
Ein echter Mistkerl also, der bei dem mit bösem Witz gut unterhaltenen Leser jenes schlechte Gewissen erzeugt, das oft beim Lästern über wehrlose Dritte entsteht. "Wir lassen kein gutes Haar an der Stadt und an den Leuten, und immer, wenn Konrad niemand mehr einfällt, nenne ich ihm einen neuen Namen. Während er ihn so richtig fies heruntermacht, entspanne ich auf dem Beifahrersitz." Aber indem Böhm auch kundtut, wie mies er sich selbst bei alledem fühlt und welche verlorene Seele er eigentlich ist, kriegt er auch den Leser über die Mitleidstour wieder herum. "Es beginnt immer mit den Worten, die Worte sind das reinste Gift, sie werden immer zu Fleisch, das steht schon in der Bibel so. Irgendwann werde ich mir die Zunge rausschneiden müssen oder als Einsiedler in die Wälder gehen, das ist die einzige Rettung, die es für mich gibt."
Diese Komplizenschaft mit dem Leser ist ein geschickter Trick und auch eine Falle. Denn die identifikatorische Lektüre, die 1995 einen großen Anteil am Erfolg von "Faserland" hatte, funktioniert nur bis zu dem Punkt, an dem tatsächlich Menschen unter die Räder kommen. Wenn Böhm einen Abstecher in sein Elternhaus macht und dort seinen als Spielkonsolen-Junkie verdämmernden kleinen Bruder trifft - eine gelungene Kontrafaktur des nächtlichen Besuchs Holden Caulfields bei seiner kleinen Schwester Phoebe -, ahnt man in frühen Verletzungen die Quellen dieses Welt- und Selbsthasses. Doch bei der anschließenden Drogenparty mit Jugendfreunden am titelgebenden "Paradiso", einem idyllischen Baggersee im Wald, kippt die Hauptfigur ins Dämonische. Wer seine eigenen Gefühle nicht mehr vom Fake unterscheiden kann, dem fallen die besten Freunde als Erstes zum Opfer.
Noch einmal seien die Ahnen aufgerufen: "Der Fänger im Roggen" - "Taxi Driver" und "American Gigolo" - "American Psycho" - "Faserland" - "Paradiso". Es ist vielleicht mehr als biografischer Zufall, dass deren Autoren bei Erscheinen allesamt Ende zwanzig, Anfang dreißig waren - in einer Phase, da man alt genug ist, um die Welt für unverbesserlich zu halten, aber noch jung genug, um nicht resigniert oder verstummt zu sein, in einem Alter, in dem Idealismus in Zynismus umgeschlagen ist, ohne seine Kraft zu verlieren. In der deutschen Popliteratur waren derartige Erzählerfiguren eine Zeitlang allgegenwärtig, bei Stuckrad-Barre, Lottmann oder Wolfgang Herrndorf etwa. Jetzt kehrt das kleine Arschloch zurück. Als "Faserland" erschien, war Klupp achtzehn, und es ist interessant zu sehen, wie eine neue Generation jenseits des aus der Mode gekommenen Dandytums das Motiv der gefallenen Welt fortschreibt.
Nach der drogenvernebelten Katastrophe im Wald folgt der Roman mit großem Tempe einer Logik der Eskalation: "Eine halbe Stunde lang hundertachtzig im Vierten. BMW hin oder her, das hält nicht einmal ein Panzer aus." Die Mission Impossible, bei der Böhm sich selbst mit verrecktem Motor heroisch auf dem Standstreifen kämpfen sieht, führt ihn tatsächlich durch ein echtes Kornfeld und schließlich doch noch an ein Ziel, dessen Existenz aber längst nicht mehr sicher ist. Warum sollte der Leser glauben, was dieser Erzähler auftischt? "Ich begreife auch gar nicht, weshalb ich noch immer hinter diesem Zeitungsständer stehe und sie beobachte, als wäre sie eine wildfremde Person und nicht meine Freundin, die mich doch liebt." Das Motto des Romans liefert ein uralter Song der Hardcore-Band NOFX: "Don't put your faith in me". Sage niemand, Klupp hätte uns nicht gewarnt.
Thomas Klupp: "Paradiso". Roman. Berlin Verlag, 2009. 206 S., geb., 18,- [Euro].
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