die Handlung von Ejersbos fünfhundertseitigem Drogenepos beginnt, hat es Maria zur "Pusherfrau" gebracht, wie man in Kifferkreisen ehrfürchtig die Partnerin eines Haschischhändlers nennt. "Ich habe noch nie etwas Richtiges gemacht", bekennt sie gleich zu Anfang des Romans freimütig und gibt damit dessen gesellschaftliche Randperspektive vor. Nachdem Ejersbo sich in seinem Kurzgeschichtenband "Superego" vor ein paar Jahren der reichen Yuppie-Schicht Dänemarks widmete, blickt er in "Nordkraft" nun sozusagen ans andere Ende der sozialen Skala: auf eine kiffende Gruppe orientierungsloser Arbeiterkinder, die fast alle eine verkorkste Kindheit hinter sich haben.
So auch Allan, ein sechsundzwanzigjähriger Schiffsingenieur und der zweite Ich-Erzähler des Buches. Wie Maria wuchs auch er allein bei seiner Mutter auf, die zudem noch Alkoholikerin ist. Und auch Allan schaffte nach der Schulzeit nicht, aus Aalborg wegzukommen, jener Provinzstadt im Nordosten Dänemarks, die - wenn überhaupt - allenfalls für ihre Schiffswerft, ihren Aquavit und die Jomfru Ane Gade berühmt ist: die längste Kneipenmeile des Königreichs.
Aalborg ist trist. "Nordkraft", das titelspendende Wärmekraftwerk der Stadt, ist lange schon stillgelegt worden. Es herrschen Arbeitslosigkeit und Langeweile. Und wer hier als junger Mensch hängenbleibt, der ist - das wird dem Leser schnell klar - meistens auch sonst irgendwie in seinem Leben hängengeblieben. Nicht zufällig erinnert einen Aalborg an das schottische Kaff Leith, in dem Irvine Welsh vor ein paar Jahren seinen mit großem Erfolg auch verfilmten Kultroman "Trainspotting" spielen ließ. Die Parallelen zwischen diesen beiden Drogenbüchern sind auffällig. Wie "Trainspotting" gleicht "Nordkraft" eher einer Reihung von Kurzgeschichten als einem langen Roman. Wie sein schottischer Vorgänger schildert der dänische Bestseller einen verblüffend öden, mitunter brutalen und stellenweise skurrilen Suchtalltag. Und wie schon bei Welsh dominieren auch bei Ejersbo derb-zotige Dialoge in Umgangssprache.
Man merkt dem Romandebüt des hauptberuflichen Journalisten an, daß sein Autor viele Recherchegespräche geführt hat. Ejersbo ist spürbar stolz darauf, illegale Schmuggeltechniken und Insiderbegriffe wie "Bong" oder "Mische" genau erklären zu können. Leider schreckt er in seinem Bestreben, möglichst authentisch zu wirken, noch nicht einmal vor Grammatikfehlern zurück, wenn es darum geht, seitenlang die Sprüche eines iranischen Drogenkuriers wiederzugeben.
Vor allem aber unterscheidet sich "Nordkraft" in seiner wertenden Haltung dann doch grundsätzlich von dem provozierenden Buch Welshs. Die eigentlich vergleichsweise harmlose Droge Haschisch wird bei Ejersbo zum gefährlichen Suchtmittel vom Range Heroins hochstilisiert, inklusive dramatischer Entzugserscheinungen. Je länger seine Cliquen-Chronik voranschreitet, desto deutlicher zeigt sich tatsächlich ihre didaktische Mission. Ejersbo hat sein Debüt als eine Art Abschreckungslektüre in drei Stufen konzipiert. Im ersten Teil, in dem die Insiderin Maria berichtet, überwiegt noch das Abenteuerliche am Haschischkonsum, für den man gewisses Verständnis aufbringen kann. Doch schon im zweiten Teil, den der Szeneaussteiger Allan zwei Jahre später erzählt, ist es mit dem Kifferspaß vorbei.
Allan, der nach Jahren auf See wieder nach Aalborg zurückkehrt, ist von der steten Angst vor dem Rückfall getrieben. Immer wieder gerät er in Versuchung, erneut Drogen zu nehmen. Immer wieder widersteht er ihr. Denn, so Allans Überlegung: "Hinterher werde ich noch mehr Ekel vor mir empfinden, und es wird dann endgültig schwer sein, den Drang zu bekämpfen." Im dritten Teil schließlich, der noch einmal zwei Jahre später einsetzt, offenbaren sich in multiperspektivischer Schilderung endgültig die Schattenseiten des Drogengenusses. Die ehemaligen Freunde haben erstmals einen Toten zu beklagen, der vom Haschisch auf Heroin umgestiegen war. Beim Besäufnis nach der Beerdigung bringt einer von ihnen Ejersbos erzieherische Botschaft auf den Punkt: "Wir hatten das eine oder andere intensive Erlebnis, aber das änderte ja doch nichts am Leben an sich."
Keine Macht den Drogen, denn sie machen nichts besser, höchstens schlimmer - so lautet die Grundaussage dieses moralisierend-lehrhaften und bei näherem Hinsehen im Grunde konservativen Buches. Von der rotzigen Revolte eines Jack Kerouac, von der Experimentierfreude eines William Burroughs (die beide von Ejersbo zitiert werden) oder auch vom Sarkasmus eines Irvine Welsh bleibt in "Nordkraft" nicht viel übrig. Ejersbo erzählt lieber von partnerschaftlicher Zweisamkeit und Sport als Ausweg aus der Sucht.
Seinen Roman als neuen "Houllebecq" anzukündigen, wie es der deutsche Klappentext tut, ist von daher völlig verfehlt. Mit politischer oder moralischer Provokation nämlich hat Ejersbo in "Nordkraft" nichts im Sinn. Seine Stärke ist konventioneller: Sie liegt darin, Ereignisse gekonnt zu drehbuchreifen Szenen zu verdichten. Daneben erzeugt sein erzähltechnischer Kniff, ein Geschehen mehrmals aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, eine fast krimihafte Spannung. Für ein umfassendes Porträt der Generation der Nachachtundsechziger aber, wie es der Klappentext wiederum unterstellt, sind Ejersbos Figuren charakterlich nicht tief genug ausgelotet - und fehlt es vor allem am ideologischen Überbau.
"Nordkraft" ist letztlich eine typische, mit fünfhundert Seiten etwas zu lang geratene, insgesamt souverän, wenn auch brav erzählte Sex-Drugs-and-Rock-'n'- Roll-Geschichte, die mit den üblichen heißen Flirts, Exzessen und Verfolgungsjagden aufwartet. Am Ende siegen, ganz im Stil Hollywoods, die bewährten family values. In Dänemark wurde das Buch damit zum Verkaufserfolg und soll demnächst nun tatsächlich verfilmt werden.
GISA FUNCK
Jakob Ejersbo: "Nordkraft". Roman. Aus dem Dänischen übersetzt von Sigrid Engeler. DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2004. 537 S., geb., 22,90 [Euro].
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