sechste Buch der "Nikomachischen Ethik" hat Gadamers Denken schon früh geprägt. In "Wahrheit und Methode" bezeichnet er die "Beschreibung der ethischen Phänomene und insbesondere der Tugend des sittlichen Wissens" als "eine Art Modell der in der hermeneutischen Aufgabe gelegenen Probleme". Die Gemeinsamkeit von Wahrheit in den Geisteswissenschaften und im "praktischen Wissen" (phrónesis) bestehe darin, daß es auch Aristoteles "um die richtige Bemessung der Rolle, die die Vernunft im sittlichen Handeln zu spielen hat", gehe.
Im vorliegenden "Studienbüchlein" beschäftigt sich Gadamer zunächst mit der Einordnung des Textes in das Corpus Aristotelicum. Uns sind drei Ethiken des Aristoteles überliefert: die "Nikomachische", die "Eudemische" und die "Große Ethik" (Magna Moralia). Es ist nicht sicher, ob das sechste (und ebenso das fünfte und siebte) Buch der "Nikomachischen Ethik" tatsächlich in diesen Traktat gehört oder nicht vielmehr in die "Eudemische Ethik".
Früher wurden die inhaltlichen Unterschiede der drei ethischen Schriften durch die geistige Entwicklung des Autors erklärt. Demnach entwickelte sich das philosophische Denken des Aristoteles durch dessen allmähliche Ablösung von seinem Lehrer Platon. Gadamer lehnt diese Theorie, die auf Werner Jaeger und dessen Schüler zurückgeht, als "suggestive genetisch-historische Konstruktion" ab und führt die Differenzen "mehr auf die wechselnde Gelegenheit und Adresse als auf Veränderungen in den philosophischen Anschauungen des Aristoteles" zurück. Er stellt fest: "Einen definitiven Text der aristotelischen Ethik gibt es nicht länger. Alles, was wir zu lesen bekommen, weist über sich selber hinaus. Das im Auge zu behalten ist die neue hermeneutische Aufgabe." So sind die von Aristoteles überlieferten Texte keine Bücher, sondern vielmehr "Begleittexte zu Lehrveranstaltungen", und das bedeutet, "sie sind auch für uns nur Schultexte. Sie stellen Fragen an uns." Da das sechste Buch ein geschlossener Text ist, ist es für sein Verständnis irrelevant zu wissen, in welchen Kontext er ursprünglich gehörte.
Die Schlüsselbegriffe in der praktischen Philosophie des Aristoteles sind Phronesis und Arete. Aristoteles bezeichnet die Phronesis als eine "geistige Tugend" (areté dianoetiké) im Gegensatz zu den "ethischen", das heißt den Tugenden des Charakters (éthos). Die adäquate Übersetzung der Begriffe phrónesis und areté bereitet den Übersetzern seit jeher große Schwierigkeiten. Letzterer ist mit "Tugend" (lateinisch virtus) nur unzureichend übersetzt, denn im heutigen Sprachgebrauch sind Tugenden auf den Bereich der Moral beschränkt. Gadamer verwendet in seiner Übersetzung zwar "Tugend", spricht aber in seinen Anmerkungen von "Bestheit". Diese Unentschiedenheit macht deutlich, daß wir uns diesem Begriff nur annähern können. Er läßt sich nicht ohne Bedeutungsveränderung in unsere heutige Zeit übertragen. Das ist ein grundsätzliches hermeneutisches Problem und keine Frage der Übersetzungskunst.
Gleiches gilt für die Phronesis, deren lateinische Übersetzung mit prudentia "eine durch die Jahrhunderte gehende Fehlinterpretation" war. Prudentia ("Klugheit") "ist überhaupt keine Tugend, sondern eine Naturgabe". Phronesis ist nicht Mittel zum Zweck, sondern meint "vor allem die Urteilsfähigkeit im konkreten Fall" und ist "ein Blick, der das Ganze des eigenen Lebens umfaßt. Das macht Phronesis, die praktische Vernünftigkeit, zur ,Tugend'." Dieser Aspekt, der Blick aufs "Ganze des eigenen Lebens", ist entscheidend.
Aristoteles grenzt die Phronesis von der Techne ab. Bei der "praktischen Vernünftigkeit" geht es nicht um das Herstellen; Phronesis ist kein Können, kein "Handwerkerwissen": "Das-Richtige-Tun" (práttein) ist nicht dasselbe wie "Etwas-Machen" (poieín). Der Vernünftige (phrónimos) zeichnet sich durch ein "bestes Wissen" aus, auf Grund dessen ihm sein Tun gelingt. Ganz anders verhält es sich beim Herstellen eines Produkts: "Und in der Tat kann man sein Handwerk noch so gut gelernt haben, aber das Gelingen kann man nicht lernen." Dem Vernünftigen glückt sein Leben, weil er immer weiß, warum er "ja oder nein zu sagen" hat. "Was der Phronimos von dem bloßen Könner, die Phronesis von der Techne unterscheidet, ist, daß der Phronimos mit sich selber zu Rate geht und nicht bloßen Regeln folgt."
Tugend ist immer sowohl im Charakter als auch im Denken verwurzelt. Die Aufgabe einer praktischen Philosophie, also einer Reflexion auf die Struktur menschlichen Verhaltens im öffentlichen und privaten Raum, besteht in der Aufdeckung der Rationalität, die auch in diesem von irrationalen Triebkräften bestimmten Bereich wirksam ist. Die "besondere Art von Wahrheit", mit der wir es hier zu tun haben, besteht nicht darin, zu wissen, "daß eine Sache so und so ist, sondern daß das Gute getan wird". THOMAS PLUM
Aristoteles: "Nikomachische Ethik IV." Text griechisch-deutsch. Herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Hans-Georg Gadamer. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1998. VII, 70 S., br., 16,80 DM.
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