wird man, wenn man nicht in frühester Jugend existentiell bedroht ist wie die Juden in Europa in jener Zeit, eher zu einem Menschen, der Konflikte durch Kompromisse zu lösen versucht. Dass er ein solcher ist, wird in dem Erinnerungswerk schnell klar.
Politisiert wurde Primor sehr früh, was angesichts der Ereignisse um die Staatsgründung und den ersten Krieg der arabischen Nachbarstaaten gegen Israel wohl auch kaum zu vermeiden war. Der Autor pflegt eine angenehme, flüssige Erzählweise, die zwar im Prinzip der Chronologie des Lebens folgt, an geeigneter Stelle aber immer wieder für Aha-Erlebnisse sorgt. Primor verbindet gerne Episoden aus dem Leben mit grundsätzlichen politischen Einsichten. Selbst wenn man diese nicht teilt, lohnt sich zumindest das Nachdenken darüber. Und eines kann man diesem Diplomaten nun wirklich nicht vorwerfen: dass er nämlich kritiklos die Politik "seiner" vielen Regierungen hinnähme. Gerade das heutige Israel, das von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu repräsentiert wird, liegt dem Patrioten Primor schwer auf der Seele. Mehr noch gilt das für die Koalitionspartner des aktuellen Regierungschefs.
Unvermeidlich in einem Erinnerungsbuch ist der lange Reigen von vermeintlich und wirklich wichtigen Personen, mit denen der Erzähler im Lauf der Jahre - beruflich und privat - zu tun hat. So etwas hat nicht immer Unterhaltungs- oder gar Informationswert. Aber abgesehen davon, dass es Primor mit dem "name dropping" nicht übertreibt, pflegt er einen dramaturgischen Kniff. Wiederholt erzählt er lang und breit von der Begegnung mit einem Menschen, löst aber erst sehr spät das Rätsel, um wen genau es sich dabei handelt.
Ein Schlüsselerlebnis des Diplomaten Primor war die sich nach dem Sechstagekrieg des Jahres 1967 dramatisch verändernde Wahrnehmung Israels vor allem bei seinen natürlichen Verbündeten im Westen. Mit Recht bescheinigt Primor den Palästinensern, sie hätten in ihrer Propaganda den für die westliche Öffentlichkeit richtigen Ton getroffen und dadurch Mitleid für das Schicksal ihres Volkes erzeugt. Das Phänomen Desinformation, das er in diesem Zusammenhang thematisiert, ist zwar vermutlich ungefähr so alt wie die Menschheit. Aber offene Gesellschaften sind offenbar immer wieder überrascht davon und wollen nicht glauben, dass da eine Konfliktpartei womöglich Böses im Schilde führen könnte. Das ist zurzeit zum Beispiel beim Thema Krieg in der Ukraine zu besichtigen.
Natürlich muss und will auch der Memoirenschreiber Primor die Erwartungen seiner Leser nach Einblicken in das Diplomatenleben befriedigen. Aber er hält sich dankenswerterweise nicht lange mit Schilderungen auf, die in die bunten Blätter gehören. Es wird selbstverständlich parliert, gegessen und getrunken. Aber in aller Regel geht es um erdverbundenere Themen als die neuesten und besten Cocktailrezepte.
Ein erzählerischer roter Faden durchzieht das gesamte Buch. Der Politiker Avi Primor ist felsenfest davon überzeugt, dass sein Staat nur dann dauerhaft in Frieden leben kann, wenn er seinen arabischen Nachbarn entgegenkommt, also (politisch) auch zu Opfern bereit ist. Diese Haltung ist im Israel von heute ausweislich der Wahlergebnisse in jüngerer Vergangenheit nicht sehr populär. Dafür sind nun zwar nicht nur Betonköpfe in der israelischen Regierung verantwortlich, sondern auch die zahlreichen arabischen Extremisten. Aber die Diagnose bleibt. Und so schwingt immer ein Hauch Tragik mit, wenn dieser Diplomat an der Politik des Staates verzweifelt, dessen Gründung im Jahre 1948 ihn und seine Generation mit so viel Begeisterung und Stolz erfüllt hatte, weil sie nach knapp zwei Jahrtausenden endlich eine sichere Heimstatt für das jüdische Volk schaffen sollte.
PETER STURM
Avi Primor: Nichts ist jemals vollendet. Die Autobiographie. Quadriga Verlag, Köln 2015. 431 S., 22,99 [Euro].
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