("Steine", 1983; "Die Schrift der Steine", 2004) etwa sammelte in Scheiben geschnittene Steine; auf der diesjährigen Biennale sind sie ausgestellt, und er las daraus wie auf Seiten - dass einst aus flüssigem Werden Sein aushärtete. Dauer und Hinfälligkeit, ein ersprießliches Thema.
Christian Enzensberger hat ebenfalls jahrelang über Steine nachgesonnen; postum sind seine Notizen dazu unter dem Titel "Nicht Eins und Doch" erschienen. Der 2009 verstorbene Anglist, Autor und Übersetzer war der Bruder von Hans Magnus und Ulrich Enzensberger. Was sagen die Steine Enzensberger - sie reden ja mit ihm, in bairischer Mundart? Schwer zu sagen. Es geht um irgendein naturtief Unmittelbares, an Stein, Welt und Wasser Erfahrbares, um eigentlich Unsagbares. Und darum müht, munkelt und dreht sich das Buch, wie redselige Mystik, fünfhundert verwickelte Seiten lang. Es bleibt trotz aller Mühen seiner- und meinerseits unklar.
Ohne der Schwierigkeiten zu achten, die eine Beurteilung solch magischen Materialismus abfordert, kann man sich zunächst der Begutachtung seiner Buchform zu seinem Vor-, aber auch Nachteil bedienen. Das stattliche Werk sei, so der Verlag, "in Samt mit Steinstruktur gebunden", schaut aber aus und fühlt sich an wie mit Sofalederimitat bezogen. Der Buchleib steckt überdies in einem Schuber, der den Titel auf abgebildetem Magmagestein werbend wiederholt und unten Strichcode, Preis und sonstige Nummern versteckt. Das Buch wirkt, wie alle aus der Anderen Bibliothek, nobel; indes bleibt unklärbar, ob der Autor von "Größerer Versuch über den Schmutz" (1968) sich sein Werk sauber wie Edelware (oder gar überhaupt?) gewünscht hätte.
Wäre Karton, kieselgrau und wacker, schicklicher gewesen? Nein, denn warum muss, wo Stein drinsteht, "Steinstruktur" drum herum sein? Vielleicht aber irrt diese kleine buchbinderische Täuschung gar nicht. Denn das Buch will auch sonst missfallen oder genauer: sich erleiden lassen. Irgendetwas stimmt nicht. Der endlose Text deutet auf eine erhabene wie schlichte, rätselhafte wie simple Tiefe, die sich dem durchaus Wohlwollenden - im Buch wird er mit "günstiger Leser" angesprochen - nicht erschließen will.
Nun, es muss nicht immer alles verstehbar sein. Schöner aber ist's schon! Vermutlich wurde das Buch darum dreifach kuratiert: mit einer "Hinführung" von Stefan Ripplinger und einem Nachwort von Dirck Linck und Joseph Vogl. Diese Vor- und Nachworte sind voller Zuneigung, Verständnis und erbaulich zu lesen. Ihre Autoren sind allesamt gewichtige Bürgen - ich weise hin auf Dirck Lincks feinen Text über Désinvolture und Hans Imhoff; auf Vogls Apologie des Zauderns, Ripplingers feinspürigen Text über den Künstler Tomas Schmit. Und sogar noch ein viertes Wort des Lektors Christian Döring rechtfertigt und geleitet vermittels eines beigelegten Zettels und Versprechens, man erwarte ein "wundervolles Sprachereignis".
Gewiss, es gibt schöne Stellen, etwa zum Licht, zum Wasser, auch interessante, etwa zum Geld, doch sind es zu wenige; der redefrohe Schriftstrom vertilgt sie. Und das häufige Bemäkeln abendländischen, naturwissenschaftlichen Denkens, Messens, Benennens zugunsten eines dunklen Raunens und ökomodern schamanischen Ahnens erregt Überdruss und Argwohn. Das Wissen um Siliziumdioxyd, Quarz und Sediment engt doch das Fühlen, Sinnen und Ahnen nicht ein! Es bereichert die Welt, und für die Kompensation des Universums durch Pluriversien ist allfällig gesorgt, etwa durch Odo Marquard. Überdies darf sich hier jeder - verfassungsgemäß! - mit Steinen unterhalten; wir hoffen gar, gut!
Unzweifelhaft lässt es sich gut reden und ausgiebig mutmaßen über Steine. Zum einen werden sie kaum widersprechen, Enzensberger ausgenommen. Und weiters, man steckt nicht drin! Enzensberger freilich müht sich. Und so läuft es dann mit dem Sprechen über Steine ein wenig wie mit der Hermeneutik in der modernen Kunst: Wo wenig zu sehen und vernehmen, ist gut viel zu denken, zu sagen. Die zeitgemäßen Ausdeuter - Lyotard etwa - haben freimütig erklärt, dass ihnen ein Gegenstand der liebste sei, an dem es wenig zu erkennen und infolgedessen ausgiebig zu deuten gebe, Kunst also oder Natur. So sind dies Belange des Glaubens geworden und die Ähnlichkeiten zwischen ästhetischer und theologischer Deutkunst erstaunlich: wie man mit Hilfe von Sprache der Fettecke oder dem Stein Geheimnisse entlockt und Seele einhaucht.
Aber warum nicht? Der Anlass zu allgewaltigen Texten ist ja egal. Dieses Buch indes bleibt spröde. Enzensbergers Text liest sich wie eine Litanei, wie ein ewig neuer Anlauf, und die Anstrengung, begreiflich zu machen, was einem selbst unerklärbar einleuchtet - das Paradox beredter Mystik eben -, kehrt sich als Strapaze wider den Leser. Neben welch ähnliche Werke könnte man dieses Buch stellen? Es wären wohl solche, die Ekstasen beim Schreiben, aber Mühsal beim Lesen und Verstehen bereiten; verschlossene, beinahe insel- und uferlose Denkwelten. Das Vorwort nennt den Mystiker Jakob Böhme, ich Quirinus Kuhlmann, doch sind die ganz anders. Der späte Arno Schmidt vielleicht? Doch ist da alles ganz anders. Von Wense? Wieder anders. Ulrich Schlotmann ("Endlöse", 1993), gut und gottlob ganz anders.
Lassen wir es also bleiben. Solche Wüsten, Gebirge, Gesenke oder Halden lassen sich schwer ausmessen, wohl aber - je nach Vermögen und Geschmack - begehen, besteigen, durchqueren. Und so wollen wir keinesfalls abraten, sondern geneigten, "günstigen Lesern" zuraten, es mit Enzensbergers Geländelauf zu versuchen. Sie werden ja sehen, ob Sie mitkommen.
THOMAS KAPIELSKI
Christian Enzensberger: "Nicht Eins und Doch". Geschichte der Natur.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2013. 543 S., geb., 38,- [Euro].
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