Künstlerfest im Neandertal im Jahr 1826. In dem Buch "Neandertal. Die Geschichte geht weiter" zeichnen Ralf W. Schmitz und Jürgen Thissen auf der Grundlage alter Quellen das ausgelassene Treiben in den Höhlen einer damals romantischen Schlucht in der Nähe von Düsseldorf nach, von deren bekanntestem Bewohner sie selbst noch im Jahr 1997 bis dahin verschollen geglaubte Überreste entdeckt haben.
Die Geschichte des Ur-Neandertalers ist ein klassisches Kriminalstück mit dramatischen Aspekten vor dem Hintergrund einer Szenerie, in der die Natur der Industrialisierung einen hohen Preis zu zahlen hatte. Die Schlucht, die bis 1841 regelmäßig von Professoren und Studenten der Düsseldorfer Malerschule und anderen Künstlern aufgesucht wurde, gibt es nämlich nicht mehr. Die Felswände, die von zahlreichen Höhlen durchsetzt waren, wurden abgebaut, weil man ihr Kalkgestein für den Straßenbau und andere Vorhaben benötigte. Bis 1850 hatte der Kalksteinabbau im Neandertal lediglich lokale Bedeutung gehabt. Danach stieg der Bedarf an dem Naturstein sprunghaft an.
Italienische Arbeiter waren es, die 1856 beim Bearbeiten des Gesteins in der Kleinen Feldhofer Grotte auf Knochen stießen. Fast hätten sie diese wie das restliche Abraummaterial aus der Höhle in die Tiefe der Schlucht entsorgt. Doch zufällig kam gerade der Mitbesitzer des Steinbruchs vorbei, der beim Anblick der Knochen an Höhlenbären dachte, von denen im Neandertal bereits einige Überreste aufgetaucht waren. So gelangten sechzehn Knochen und Knochenteile zu dem Lehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott aus dem nahen Elberfeld, der die "menschliche" Herkunft der Überreste erkannte. Ihre eigentliche Bedeutung ging aber erst dem Bonner Anatomieprofessor Hermann Schaaffhausen auf.
In der Folgezeit entbrannte ein wissenschaftlicher Streit über die Frage, ob die Knochen, die sich in der Form von jenen des heutigen Menschen unterschieden, nur krankhaft entstellt waren oder ob sie zu einem "Urvolk" gehörten. Der Berliner Gelehrte Rudolf Virchow war einer der heftigsten Vertreter der Krankheitshypothese. Er bekam aber erst sechzehn Jahre nach der Entdeckung die Gelegenheit, die Knochen im Original zu begutachten - und das auch nur, weil er Fuhlrotts Haus aufsuchte, als der Hausherr nicht anwesend war. Es war gleichsam eine Nacht- und-Nebel-Aktion.
Schließlich setzte sich die Überzeugung durch, daß der Neandertaler, der vor 200000 bis knapp 30000 Jahren im Großraum von Gibraltar bis Usbekistan gelebt hat, eine Frühform des Menschen darstellt. Als Vorfahr des modernen Menschen wird er allerdings kaum noch angesehen. Er gilt vielmehr als ausgestorbener Vetter. Unklar bleibt, ob er sich mit dem modernen Menschen vermischen konnte, wie einige Wissenschaftler glauben. Zumindest scheint er von diesem einige Sitten und Gebräuche übernommen zu haben. Vereinzelte Schmuckstücke, die zusammen mit Knochen des Neandertalers gefunden wurden, deuten darauf hin. Die Bestattung in Gräbern dagegen hat er wohl aus eigenem Antrieb praktiziert.
Mittlerweile sind Skelettreste von rund dreihundert Neandertalern geborgen worden. Für eine eindeutige Einordnung in den Stammbaum des Menschen ist das nicht besonders viel. Immerhin aber ist es mittlerweile auch möglich geworden, anhand der Knochen die Mitochondrien-DNS zu analysieren, was Matthias Krings, einem Schüler Svante Pääbos in München, im Jahr 1996 erstmals gelang. Und zwar ausgerechnet mit dem Material des Ur-Neandertalers aus dem Neandertal. Die Idee zu dieser Analyse hatte einer der beiden Autoren, Schmitz, drei Jahre vorher gehabt, als er hörte, daß Pääbo nun in Deutschland arbeitete.
Für Schmitz und seinen Kollegen Thissen sollte das der Auftakt für ein archäologisches Abenteuer sein. Die beiden jungen Forscher nahmen sich vor, im Neandertal nach dem seinerzeit in die Schlucht entsorgten Abraummaterial aus der Kleinen Feldhofer Grotte zu suchen. Vielleicht könnten darin ja noch weitere - damals übersehene - Knochenreste verborgen sein. Ein fast aussichtsloses Unterfangen, an dem bereits Gerhard Bosinski vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Köln bei einer Grabungskampagne (1983 bis 1985) gescheitert war. Durch den Kalkabbau waren die steilen Hänge der Schlucht verschwunden, und es gab keine Aufzeichnungen, wo genau sich die Höhle befunden hat, unterhalb derer sich das Abraummaterial finden mußte.
Die beiden Archäologen ließen sich davon nicht abschrecken. Sie beantragten - höchst bescheidene - Mittel für eine neue Grabung, die sie dann 1997 mit einigen Studenten ausführten. Auf eine insgesamt höchst primitive Weise. Gleichwohl war ihnen das Glück insofern hold, als sie wirklich ein paar fossile Knochen fanden. Aber hatten sie an der richtigen Stelle gegraben? Waren das weitere Überreste des Ur-Neandertalers? Möglicherweise ließ sich das durch Vergleich mit den 1856 zum Vorschein gekommenen Knochen klären.
Am 21. Januar 1999 war es soweit. Im Rheinischen Landesmuseum in Bonn konnte der Vergleich beginnen: "Während Ralf ein kleines Gelenkstück aus unserer Grabung ergriff . . ., nahm ich den linken Oberschenkelknochen des Neandertalers zur Hand. Ich sah, daß am Kniegelenk außen ein kleines Stück abgeplatzt war. Sicherlich war dies 1856 durch den Hieb eines Steinbrucharbeiters geschehen. Ralf drehte das markstückgroße Gelenkstück von 1997 in der Hand, während ich ihm das untere Oberschenkelende des Neandertalers entgegenhielt - man konnte es ja mal probieren. Ralf versuchte es und - es paßte. Ungläubig schauten wir uns an. Es paßte wirklich!! Konnte das wahr sein? Das Stück rastete regelrecht in die Fehlstelle ein." Die letzte Ruhestätte des Ur-Neandertalers war tatsächlich wiedergefunden worden. Sogleich wurde eine weitere Grabung für das Frühjahr 2000 geplant.
Den Autoren ist es gelungen, die spannende Geschichte des Ur-Neandertalers - des ersten als Neandertaler eingestuften Skeletts - kurzweilig darzustellen. Bei der Lektüre wird die damalige Zeit wieder lebendig, was auch den zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen zu verdanken ist. Die fossile Konkurrenz sowie Leben und Umwelt des Neandertalers werden ausführlich dargestellt, und anhand der neuen Grabung lernt der Leser die Sorgen und Qualen der Archäologen bei der Feldarbeit kennen. Ein lesenswertes Buch.
GÜNTER PAUL
Ralf W. Schmitz, Jürgen Thissen: "Neandertal". Die Geschichte geht weiter. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin 2000. 327 S., Abb., geb., 49,80 DM.
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