können. Nun stand er ihr gegenüber, Wirklichkeit und Welterfahrung, Denken und Anschauung, Wissen und Handeln fielen auseinander. Und das ist der Beginn einer Odyssee, die das Denken durchschreiten muss, "eine lange Kette von Irrtümern, bevor es sich der wirklichen Welt wieder nähert und die Züge in ihr wiedererkennt, die Schöpfungs- und Entwicklungsmythen einst so lebendig beschrieben haben".
Es war nicht klein gedacht, was Paul Feyerabend hier Anfang der siebziger Jahre formulierte: Was mit Parmenides' Hang zu strengen Gesetzen "hinter" den unmittelbar gegebenen Ereignissen begann, sollte jetzt erst - zum Beispiel durch unorthodoxe Deutungen der Quantentheorie bei David Bohm oder durch die Thermodynamik jenseits von Gleichgewichten bei Ilyia Prigogine - als Kette von Irrtümern eingeklammert werden können.
Die Passage findet sich in einem nun zum ersten Mal, fünfzehn Jahre nach Feyerabends Tod, publizierten Text. Aus ihm hätte der erste Band einer "Einführung in die Naturphilosophie" werden sollen, die auf insgesamt drei Bände veranschlagt war. Von diesem Projekt der frühen siebziger Jahre hatte man zwar gewusst, doch lange angenommen, dass es über Absichtserklärungen nicht weit hinausgekommen war - bis man im Nachlass Feyerabends an der Universität Konstanz auf das Typoskript stieß.
Warum Feyerabend dieses Buchprojekt aufgab, ist zwar nicht bekannt. Aber die Publikation von "Against Method" 1975 wird dafür sicherlich von Bedeutung gewesen sein. Diese Skizze einer "anarchistischen Theorie des Wissens", die im Jahr darauf als "Wider den Methodenzwang" auch auf Deutsch erschien, machte ihn weit über die engen Kreise der Wissenschaftsphilosophie hinaus bekannt und schnell auch als Wissenschaftsfeind berüchtigt. Sie prägte das Bild von Feyerabend, und der hatte damit zu tun, sein Image halbwegs unter Kontrolle zu halten. Um Detailarbeit ging es da weniger, sondern eher um grundsätzliche Klarstellungen der verfolgten Absichten, die hinter der Maxime "Anything goes" standen. Die Selbstdarstellung als lässig dandyhafter Gegentypus zum strebsam bemühten Funktionär wissenschaftsphilosophischen Ordnungssinns gehörte dazu.
Das ambitionierte Projekt der "Naturphilosophie" reicht noch hinter diesen Aufstieg zu einem Star der Wissenschaftskritik zurück. Insgesamt hätte sie einen Durchgang von urgeschichtlicher Höhlenmalerei bis zur Gegenwart geben sollen. Entsprechend selektiv ist sie entworfen und an den Hauptthemen orientiert, die sich in Feyerabends Kritik an allen Versuchen, ein für alle Mal gültige Regularien für richtige Wissenschaft aufzustellen, bereits deutlich herauskristallisiert hatten: dass auch Alternativen zu gut etablierten Theorien mangels einsichtig zu machender Ausschlussregeln im Spiel zu halten sind und man nicht darauf zu hoffen brauche, die Übergänge zwischen hinreichend tief ansetzenden Theorien als Sache der Behebung von Defekten oder Einschränkungen rational rekonstruieren zu können. Die Entwicklung zu einer historisch-konkreten Erschließung naturwissenschaftlicher Methoden und Wissensansprüche war - gemeinsam mit Thomas S. Kuhn und anderen - in den sechziger Jahren schon auf den Weg gebracht.
Der nun edierte Text nimmt sich aber nicht irgendeinen Theoriewechsel vor, sondern die Etablierung des abendländischen Wissenschaftsideals selbst: das mythische Weltbild gegen die Unterwanderung à la Parmenides. Auf der einen Seite das mythische "Aggregatuniversum", das Eigenschaften und Ereignisse zu Komplexen ohne aufwendige Tiefenverankerung zusammenstelle; auf der anderen Seite das "Substanzuniversum" des Parmenides, das auf ebendiese Tiefenverankerung abzielt, mit der die wahrgenommene Wirklichkeit zum Schein wird, den es aus unveränderlichen Gesetzen herzuleiten gilt.
Dass man es bei dem aus einer Betrachtung von antiker Malerei und homerischer Epik gewonnenen Aggregatstil mit einer in sich stimmigen Wahrnehmung und Konzeptualisierung von Welt zu tun hat - dieses ein wenig wackelige Argument fand auch Eingang in "Wider den Methodenzwang". In der "Naturphilosophie" steht es vor dem Hintergrund weiter ausholender Überlegungen zu urzeitlicher Kunst und Theorien des Mythos, die allerdings streckenweise zu Literaturberichten werden. Mehr Profil gewinnt die Gegenposition, die Anbahnung der Odyssee des wissenschaftlichen Geistes, die dann im letzten Kapitel von Aristoteles bis zur Quantenmechanik überflogen wird - was gleichzeitig die Inhaltsangabe für die zwei weiteren geplanten Bände abgibt.
Über die "große Masse des orthodoxen wissenschaftlichen Betriebs" war das Urteil schon gefällt: ein "business", vorangetrieben von "unglücklichen, furchtsamen, aber eingebildeten Sklavenseelen". Klang darin Nietzsche-Lektüre nach, so im Bild eines sich "am Horizont" abzeichnenden Gegenunternehmens der frühe Marx. In ihm gehe es nicht mehr um die Durchsetzung begrifflicher Ordnungsansprüche, sondern um einen Prozess, der Mensch und Natur zusammenführe, ohne totalitären Beigeschmack, mit Wahrung der Mittel zur Weltbewältigung und Aussicht auf "volle Entwicklung der eigenen Persönlichkeit".
Wie immer man den utopischen Überschuss rückblickend verbucht - eine andere Wissenschaft war damals tatsächlich im Entstehen, wenn auch auf den Bahnen des von Feyerabend verachteten Betriebs. Die "Ersetzung mechanistischer Betrachtungsweisen", für die er Einstein, Bohr und Bohm als Zeugen heranzog, kam auf dem Feld der neuen Biowissenschaften in Fahrt. Und zweifellos ging damit ein anderes Naturverständnis einher, das sich von der Physik löste. Andererseits kam mit ihr auch auch ein biotechnologisches "business" ins Spiel, von dem Feyerabend bei der Revision seines Texts 1976 kaum etwas ahnen konnte.
Es ist eine naheliegende Frage, wie weit Konzepte der zur Leitwissenschaft aufgestiegenen Biologie - hochintegrierte Netzwerke, Rückkoppelungen ohne Ende, Eingebundenheit des Beobachters in ganz praktischem Sinn - in Richtung von Feyerabends Vorstellungen gingen. Um sie zu zu beantworten, hätte man von ihm vielleicht eine Naturphilosophie gebraucht. Doch die hat er dann nicht mehr geschrieben.
HELMUT MAYER
Paul Feyerabend: "Naturphilosophie". Herausgegeben und mit einem Vorwort von Helmut Heit und Eric Oberheim. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 384 S., geb., 24,80 [Euro].
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