Implikationen der Nacktheit hat, hält sie ihre Performance-Schmarren für Kritik. Nacktheit aber, wie Beecroft sie ausstellen lässt, hat nur wenig mit den gezeigten Körpern zu tun, sie folgt einem geistigen Schöpfungsakt, aus dem dann die Inbesitznahme der Körper durch Kirche, Wissenschaft und Staat in der Geschichte der abend- und morgenländischen Kultur folgte. Den vorläufigen Gipfel der wissenschaftlichen Verwaltung der Nacktheit durch Recht und Staat stellen die modernen biometrischen Verfahren zur Kennzeichnung von Menschen über Fingerabdruck, DNA und Irisfotometrie da.
Begonnen hat das alles mit dem Sündenfall. Erst seit dem Sündenfall gibt es Nacktheit, vorher gab es Unbekleidetheit, was nicht dasselbe ist. Gott hatte Adam und Eva nicht in einem geistigen, sondern in einem tierischen Körper erschaffen, doch dieser Körper wurde von der Gnade umhüllt. Deshalb kannte der Körper weder Krankheit und Tod noch die "libido", die unkontrollierbare Erregung seiner Schamteile. Nach dem Sündenfall entriss Gott den Menschen den Mantel der Gnade. Sie schämten sich und griffen zum Feigenblatt. Der Unterschied konnte aber nur bemerkt werden, wenn eine Veränderung im Sein der Menschen stattgefunden hatte. "Es muß, mit anderen Worten, eine metaphysische, eine die Seinsweise des Menschen berührende Veränderung eingetreten sein und nicht bloß eine moralische." Das Zitat hat Agamben dem Artikel "Theologie des Kleides" des katholischen Theologen Erik Peterson, 1934 veröffentlicht, entnommen. Peterson, einer der wenigen modernen Theologen, der über die Nacktheit nachgedacht hat, gehört neben Augustinus zu den Quellen, an denen Agamben die Veränderungsmacht geistiger Setzungen am Körper demonstriert. Dass er damit auch zeigen kann, was moderne Krankheitsphänomene wie Bulimie oder Anorexie mit religiösen Fasten- und Festschmauszeremonien zu tun haben, tut seiner philologischen Ernsthaftigkeit keinen Abbruch. Man muss auch keine Angst haben, dass einem das schöne Buch die Feiertage vermiest. Agamben ist kein Anti-Theologe. Als Ausblick zitiert er aus dem Talmud: "Drei Dinge nehmen die kommende Zeit vorweg, die Sonne, der Sabbat und der tashmish" (ein Wort, das sowohl Geschlechtsakt als auch Stuhlgang bedeuten kann).
Cord Riechelmann
Giorgio Agamben: "Nacktheiten". Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. S. Fischer, 200 Seiten, 19,95 Euro
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