Immigranten aus den Kolonien, einen Personenzug mitsamt Reisenden kaperte und sich darin wochenlang verschanzte: das größte Geiseldrama der Niederlande, das in einer spektakulären militärischen Befreiungsaktion endete. Da herrschte im ganzen Land Aufregung und Chaos, insbesondere aber im Groninger Krankenhaus, wo man sich auf die medizinische Versorgung zahlreicher Opfer vorbereitete. Zu dieser Stunde, an diesem Ort werden Octave und Finn geboren.
In einer Familie von stämmigen Blonden wächst ein Schlanker, Dunkelgelockter auf; bei den Schlanken, Dunkelgelockten ein stämmiger Blonder. Männer, den einfachen Erklärungen zuneigend, drängen zum Vaterschaftstest, was bei Frauen nie gut ankommt. Mißtrauen hängt in der Luft und der Ehesegen bald ziemlich schief. "Sie sind nicht der Vater", versichert schließlich der Arzt. Und fügt, kaum beruhigend, hinzu: "Und Sie nicht die Mutter. Tragik entsteht vor allem durch die verschiedenen Reaktionen und Wünsche der Beteiligten. Octaves Vater, der überfordert wirkende Nachfahre einer großen Fabrikantendynastie, und seine weniger privilegierten leiblichen Eltern könnten sich vielleicht auf eine Korrektur der Verhältnisse einigen. Aber für Octaves Mutter ist nicht die DNS entscheidend; Sohn ist für sie das Kind, das sie liebt und großgezogen hat. Der Vater verschanzt sich nun immer öfter im Hobbyraum, wo er sich vor allem im Öffnen von Flaschen übt. Als er schließlich eines Tages am Eßtisch mit blanken Worten dem Sohn das Geheimnis offenbart, rammt ihm die Mutter eine Gabel in die Schulter. "Sei froh, daß das hysterische Weib nicht deine Mutter ist", lautet der letzte Satz, bevor der Nicht-Erzeuger die Nicht-mehr-Familie verläßt.
"Morgenstern" hat die Intensität eines autobiographischen Berichts, aber es ist ein kunstvoll gebauter Roman, der seine Stränge spannungssteigernd verzahnt: das langsame Sterben der Mutter, die Geschichte der Zugentführung, die Kindheits- und Jugenderinnerungen des Erzählers Octave. Eindringlich vergegenwärtigt er Situationen, in denen er als Kind den Boden der Identität unter den Füßen verlor. Das beginnt harmlos mit tantenhaften Feststellungen: "Meine Güte, von wem hat er nur dieses schöne dicke Haar?" Daß er "anders" sei, wird dem Achtjährigen dann vom Bruder, der die Eltern belauscht hat, ins Gesicht gesagt. Und in der Schule kommt es zu einer peinlichen Szene, als eine Mitschülerin Octave als Gegenbeispiel für die gesetzmäßige Vererbung von Augenfarben anführt: daß zwei blauäugige Eltern eben doch ein braunäugiges Kind haben können. Octave versucht, sich einen Reim auf sein Anderssein zu machen. Warum ist die Ehe der Eltern so schlecht? Warum bevorzugt der Vater den Bruder so entschieden? Das Familienleben wird zur Schule des Verdachts.
Familiäre Desaster lassen oft Menschen zurück, die sich selbst genug zu sein versuchen, programmatische Egoisten, wie Octaves Alter ego, der zynisch abgeklärte Finn, der sich früh zu einem veritablen Kotzbrocken entwickelt - und der doch eine faszinierende Figur von scharfer Intelligenz ist. Man hört ihm gebannt zu, wenn er im Mittelteil des Buches, als Octave ihn zum ersten Mal besucht, mit allen Details die Geschichte der dreiwöchigen Zugentführung erzählt, in einer lässigen, slanggesättigten Redeweise (gelungen übersetzt von Ira Wilhelm), die einen wirksamen Kontrapunkt zur Hysterie der Ereignisse bildet.
Scholten gelingt hier eine überzeugende Verschränkung von privater und öffentlicher Geschichte. "Seien wir ehrlich, alle Eltern kidnappen ihre Kinder", meint Finn. Entführung und Geiselnahme, Entwurzelung und gescheiterte Integration sind Motive, die die Problematik der beiden jungen Männer beleuchten und spiegeln. Umgekehrt erscheint das politisch-soziale Drama der molukkischen Terroristen als überdimensionale Familientragödie: "Der Vater hat sich als Soldat für die Kolonialmacht Holland den Arsch aufgerissen. Zum Dank verfrachten die Holländer Papa, Mama und acht Kinder nach Holland und stecken sie dort in 'ne Baracke. Um die Ehre des Vaters zu retten, entführt der Sohn 'nen Zug ... 'n richtiges Familienepos!" In Gang gebracht nicht zuletzt von der Ästhetik des Bürgerkriegs, die in den Siebzigern in Westeuropa herrschte, als in jedem zweiten Jugendzimmer Che Guevara hing. Auch die Guerrillaromantik hatte als Ausdruck des Generationskonflikts familiäre Dynamik. Spiegelungen, wohin man blickt: die Verhandlungsführer der Polizei richten ihre Taktik an der Familienpsychologie aus; im Zug entwickelt sich zwischen Entführern und Geiseln eine Art Eltern-Kind-Gefälle.
Scholten erzählt psychologisch, vermeidet jedoch das Psychologisieren. Daß seine Erfahrungen als Filmemacher und Drehbuchautor dem Buch zugute kommen, beweist neben der Ökonomie der Komposition die suggestive, nur selten plakative Bildhaftigkeit der Erzählsequenzen - allein die Schlußeinstellung ist ein Extralob wert. Ohne zu philosophieren, rührt das Buch an Schicksalsfragen. Sie drängen sich auf, wenn ein Mensch am eigenen Leib erfährt, welche gewaltige Bedeutung ein Zufall, welche Folgen ein kleines Versehen für das ganze Leben haben kann. Schicksal, das ist das Unumkehrbare. Um es mit Octaves leiblicher Mutter zu sagen: Man kann aus einem Huhn eine Hühnersuppe machen, aber aus einer Hühnersuppe kein Huhn.
Jaap Scholten: "Morgenstern". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Ira Wilhelm. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 230 S., geb., 18,- [Euro].
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