Dolomitentälern aufbrachen, um den gefrorenen Süden nach Deutschland zu bringen, erinnert sich an ihr Leben. An Schwestern und Schwäger, Freunde und Enkel und natürlich an ihren geliebten Amadeo, der in Wahrheit wohl eher ein zwielichtiger Kriegsgewinnler war; doch über seine Schieber- und Schleppergeschäfte hat sich längst der Schleier eines schwindenden Gedächtnisses gesenkt. Sechzig Jahre später verbrachte Alba ihre Sommer in Seilstedt und ihre Winter im heimischen Valle di Carese; jetzt lebt sie, schwerhörig, lebensuntüchtig und zuletzt "voll pflegebedürftig", zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Paula am Mittelmeer.
Bis sie in ein Altersheim am Rhein eingeliefert wird, sind ihr Erinnerung und triste Gegenwart, Welt- und Lebensgeschichte bereits sanft ineinander verflossen. Alba wohnt zwar im Paradies des Vergessens, in dem Bewußtseinstrübungen ihr die Einsicht in die eigene Hinfälligkeit ersparen. Aber ihr Langzeitgedächtnis ist noch stark genug, um ihr die karge, glückliche Jugend heraufbeschwören und neu ausmalen zu können. So stößt eine hypertroph gedehnte Innen- auf eine verdämmernde Außenwelt, bis die Tagträumerin unsanft in die Realität zurückgeholt wird. Als sie wieder einmal vor Paulas mürrischer Bevormundung flieht, wird die hilflos umherirrende Greisin von Carabinieri aufgegriffen und alsbald in ein Pflegeheim abgeschoben.
Souverän und unaufdringlich bildet Katrin Seebacher den körperlichen und geistigen Verfall in ihrem Erzählduktus nach. Da ist nichts erzwungen und nichts dahingeplappert. Mit Leichtigkeit springt sie zwischen Heute und Damals und über die Alpen; der historische Hintergrund - Faschismus, Krieg, Wirtschaftswunder, neunziger Jahre - ist nur zart dahingetuscht, aber eine präzise umrissene Silhouette. Am erstaunlichsten ist ihre Sprache: eine rhythmisch durchgebildete, schlackenlose und ungemein sinnliche Prosa, vornehm in ihrer Wortwahl und doch bar aller prätentiösen Effekte. "Im Winter trug der Strand von Lerive seine Säume geschürzt, an manchen Sturmtagen raffte er sie sogar bis hoch an die Mole, und alles lag bloß: Ergrauter Sand füllte und bedeckte Flaschenhälse, schräg und gerupft sprießten Federn aus alten Vogelhälften, und hin und wieder schimmerte, wie eine Ahnung seiner sommerlichen Vornehmheit, gerundeter Fliesenkies dazwischen. Jahre und Salze hatten die Scherben zu buntem Schmuck gewaschen, und wenn man sich nur ein bißchen bückte, konnte man die vormaligen Muster sehn, über die vielleicht zu anderen Zeiten Leute gegangen waren."
So setzt Katrin Seebacher Splitter und Strandgut beschädigter Erinnerung zu einem biographischen Mosaik zusammen, dessen Farben verblassen können, aber nicht aufhören zu leuchten. So behutsam, wie Alba den Zwirn einfädelt, um ihre Monogramme in die Wäsche zu sticken oder Knöpfe anzunähen, spinnt auch Katrin Seebacher den Faden ihrer Erzählung, bis sich die "Knopfgeschichten" eines achtzigjährigen Lebens aneinanderreihen wie die Perlen ihres Rosenkranzes. Noch die Farben, mit denen sie ihre Himmel und Landschaften malt, stammen aus den Eistöpfen des "Café Barattin".
Katrin Seebacher macht sich nicht über das Kleine her, um daran ihre Virtuosität zu beweisen. Selbst Tochter einer Südtiroler Eisdynastie, tritt sie ganz hinter ihre Heldin zurück. Sie begleitet deren Selbstgespräche, Wahnbilder und Erinnerungsgespinste mit einer fast ehrfürchtigen Einfühlsamkeit, die nur von Albas schelmischem Eigenwillen besänftigt wird. So werden die Schrecknisse des Alters aufgehoben in Flauberts tröstlicher Gewißheit, daß das Leben eines schlichten Herzens in der Literatur nicht weniger zählt als alle Heldentaten und intellektuellen Abenteuer.
"Morgen oder Abend?" heißt der erste Satz. "Wenn mans wüßte, welche Zeit ist." Für Alba - und den Leser - macht es keinen Unterschied. Wenn Alba flirtet und kokettiert wie ein junges Mädchen, bleibt sie dennoch eine würdige Greisin. Wenn sie ihrem häßlichen Spiegelbild die Zunge zeigt, steht die Zeit still, die ihr Gesicht entstellt hat. Katrin Seebacher beschreibt selbst die banalsten Momente im Leben einer Greisin mit liebevoller Hingabe und einem diskreten Feingefühl. Schon wahr: Die rührende Sorgfalt, mit der sie sich noch dem winzigsten Härchen und "Gestältchen" widmet, mag robustere Naturen an hausfrauliche Stick- und Häkelarbeiten erinnern. Die großen Ereignisse spiegeln sich nur indirekt, in Alltagskram, Nähkästchenplaudereien und Stimmungsvaleurs, eher in den Reflexen des Sonnenlichts im Gebißglas als in altklugen Reflexionen. Aber all das muß kein Schaden sein. Gerade daß die Freiburger Literaturwissenschaftlerin sich nur auf ihre eigene Erfahrung und Sprache verläßt, macht ihre leisen Kleindramen erst zu einem großen Romandebüt. MARTIN HALTER
Katrin Seebacher: "Morgen oder Abend". Roman. Libelle Verlag, Lengwil 1996. 311 S., geb., 39,- DM.
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