eigenen Ego handelten, hat sie immer über sich selbst geschrieben, ging es stets um ihre Position in der Gegenwart, der politischen wie der von der Politik regierten privaten. Wir lernten sie kennen als reuevollen Zögling des Dritten Reiches, von ganzem Herzen bereit, die siegreiche kommunistische Gegenkraft zu unterstützen. Oder als enttäuschte Jüngerin der sozialistischen Macht, deren Herrschaftsmethoden ihren Erwartungen zu widersprechen begannen. Dennoch mahnte Wolf 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz ihre ostdeutschen Landsleute, die Wende nicht als Abkehr vom sozialistischen Experiment zu verstehen, sondern als Chance einer nochmaligen, diesmal vollkommenen Realisierung: Was hat sie seither gedacht? Was denkt sie heute?
Die neue Sammlung antwortet darauf. Zusammengefaßt könnte man urteilen: Christa Wolf, 1989 sechzig Jahre alt, heute in der zweiten Hälfte ihrer Siebziger, ist weise geworden. Das drückt sich darin aus, daß sie sich nirgends mehr als Medium politischer Botschaften geriert, sondern einfach als Mensch in seinem Widerspruch und mit seinen Fehlern begreift. Als Mensch, der fähig ist, Geschehnisse des Alltags wichtig zu nehmen, in ihnen das Geschenk zu erkennen oder auch die Bedrohung.
Dafür findet sie erstaunlich phantasievolle Gleichnisse. Zum Beispiel in "Nagelprobe", einer poetischen Auflistung dessen, was Nägel so alles bewirken können, hier als hilfreiche Werkzeuge, da als Sinnbild für Kraft und Stärke, dort als verdammenswerte Martergeräte. Die Erzählung stammt von 1992, man merkt der Autorin noch an, wie sehr, was vorher geschah, sie aus dem Gleichgewicht brachte. Am Ende skandiert sie: "Genagelt / ans Kreuz Vergangenheit. / Jede Bewegung / treibt / die Nägel / ins Fleisch." Auch in der nächsten, vier Jahre jüngeren Geschichte "Im Stein" nutzt sie Tatsächliches, um ihren vagen Beklemmungen Ausdruck zu verleihen. Sie beschreibt folgende Situation: Einer Patientin auf dem Operationstisch - offenbar ihr selbst - erspart die Lokalanästhesie zwar nicht minder als die Totalbetäubung körperliche Schmerzen, nicht jedoch die Angst davor. Die aber ist ebenso schlimm.
Nicht alles, was Christa Wolf in der Frühzeit der neuen Wirklichkeit schrieb, geriet so angstträchtig. Zum Beispiel bietet sie in den "Assoziationen in Blau" charmante Phantasien über die Rolle schöner Farben in der menschlichen Wahrnehmung und gelangt zu einem beglückenden Schluß im Blick auf die "Außerirdischen, die vor Freude schrien, als sie sahen, wie die Erde, der blaue Planet, geboren wurde". Es scheint - und der weitere Inhalt des Buches bestätigt es -, als ob die Autorin Jahr für Jahr, Erzählung für Erzählung mehr zu sich selbst gefunden hätte. Freilich nicht zu irgendeinem Triumph, die eigene Person und deren Lebensbühne betreffend. Nur zu der Kraft, besser zu ertragen, was aus eigenen und fremden Handlungen resultierte. Es ist ein Zeichen gewachsener innerer Stärke, wenn Wolf sich und der Öffentlichkeit ihrer Leser bekennt, "daß auch wir bestimmt waren, in den Untergang jenes Experiments mit hineingerissen zu werden, an dessen Verwirklichung wir schon lange nicht mehr glaubten".
So formuliert sie es in "Begegnungen Third Street", einem Bericht über einen Aufenthalt in Kalifornien im vorigen Jahrzehnt. In der gleichen Geschichte sinniert die Erzählerin über Gläubige, die vom "lieben" Gott reden und niemals über die Gräßlichkeit des Christus-Opfers nachdenken. Wolf schreibt: ". . . ich mußte mir sagen, daß ich, in meiner gläubigen Periode - die allerdings anderen Göttern galt - mir auch eine Menge einfacher Fragen nicht gestellt habe und daß ich das nicht vergessen und mich nicht über andere überheben sollte . . ." Die übrigen amerikanischen Erinnerungen sind eher heiter, wenngleich auch sie nicht ohne kritischen Blick sowohl auf die eigene Person wie auf die Umgebung. Danach folgen fesselnd reizvolle Schilderungen der heimatlichen Sphäre, zum Beispiel knapp dreißig Seiten lang ein Persönlichkeitsbild des Ehemannes und knapp zwanzig Seiten lang eine Darstellung dessen, was dieser Ehemann alles plant und unternimmt, um zu erwartende Gäste mit Küchenkunststücken zu beeindrucken.
Nicht nur hier, aber hier besonders erweist sich, wie geschmeidig diese Schriftstellerin mit der deutschen Sprache umzugehen vermag. Daß sie das kann, haben schon ihre frühen Bücher bezeugt. Aber wenn man die mit den Fingerübungen des neuen Erzählungsbandes vergleicht, dann fällt einem auf, daß diese kleine Form anmutiger daherkommt als die großen Romane. Woran liegt das? Man könnte davon ausgehen, die Autorin sei eben nicht nur älter, sondern auch reifer geworden. Aber eine solche Erklärung befriedigt nicht hinreichend. Es ist wohl eher so, daß Christa Wolf die Zumutungen überwunden hat, die das einstige DDR-Regime ihr, schließlich auch sie selbst sich auferlegte. Mit dem Gehorsam gegenüber der Fremdprägung verschwanden allerdings auch die Hoffnungsträume: Man muß keine politisch gearteten Erfahrungen gemacht haben, um zu wissen, daß so etwas weh tun kann. Aber es kann auch befreien, und an den zehn Erzählungen läßt sich ablesen, daß die Schriftstellerin Wolf, zu ihrem und unserem Vorteil, eine solche Befreiung durchgemacht hat.
SABINE BRANDT
Christa Wolf: "Mit anderem Blick". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 190 S., geb., 14,80 [Euro].
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