Warschauer-Pakt-Organisation so stark "militarisiert" wie die DDR - nicht einmal die Sowjetunion, die im Staat der SED übrigens mit 360 000 Rotarmisten und 200 000 Zivilangestellten präsent war. Allein im Raum Wünsdorf, wo Stab und Verwaltung der "Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland" stationiert waren, lebten 35 000 Sowjetbürger. Die Zahlen entstammen dem Sammelband mit Referaten einer Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) vom März 2003. Die Skepsis, die den Rezensenten ob solcher Tagungskonvolute befällt, vergeht bei eingehender Lektüre. Der Band gedieh gerade dank seiner Vielfalt zu einem Handbuch über wesentliche Aspekte von Militär, Staat und Gesellschaft sowie über ihre wechselseitige Durchdringung unter dem Diktat der SED. Eine gewisse Einheit in der Vielfalt des Buches erreichen die Herausgeber, indem sie die einzelnen Beiträge thematisch bündeln und durch kurze Übersichtsartikel einführen lassen. Der Band wirkt so in sich geschlossen.
War die DDR ein "rotes Preußen"? Oder trifft die Charakterisierung ihres Systems als "militarisierter Sozialismus" eher den Kern der Sache? War die Nationale Volksarmee eine "Parteiarmee" oder eine "Armee des Volkes"? Warum hat die NVA auf bewaffnete Gewalt gegen das Volk verzichtet, als die Massen im revolutionären Herbst '89 in Leipzig, Ost-Berlin und anderswo auf die Straße gingen? Das sind einige der Fragen, die in dem Buch gestellt und zumeist schlüssig beantwortet werden. Neben Themenfeldern, die auch anderweitig schon - zum Teil von denselben Autoren - beackert wurden, Blockbildung und -konfrontation im Kalten Krieg mit Sicht auf die DDR zum Beispiel, das Militär als Mittel der Herrschaftssicherung in der DDR, ihre "Sicherheitsarchitektur", die Durchsetzung der "führenden Rolle" der SED in den Streitkräften - das mutet eher herkömmlich an. Daneben finden sich in dem Band auch Fragestellungen, die durchaus in wissenschaftliches Neuland vorstoßen. Dazu zählen etwa die Studien zur Situation und zum Selbstverständnis der in der DDR stationierten Sowjettruppen von Kurt Arlt oder zum Verhältnis von Sowjetarmee und DDR-Bevölkerung, zu dem Silke Satjukow vorläufige Forschungsergebnisse vorlegt. Wenig erforscht war bislang auch die institutionalisierte Überwachung der NVA und der Grenztruppen durch die Hauptabteilung I ("Verwaltung 2000") des Ministeriums für Staatssicherheit, eine Thematik, die Stephan Wolf (Stasi-Unterlagen-Behörde) aufgreift. Defizitär waren ebenso Untersuchungen zu den Schnittflächen zwischen militärischer und ziviler Gesellschaft, denen sich Beate Ihme-Tuchel mit ihren Anmerkungen zur wechselseitigen Wahrnehmung von Volk und Armee zuwendet.
Auch Rüdiger Wenzke breitet in seinem Beitrag "Zwischen Bestenabzeichen und Armeeknast" eine Fülle neuer und erstaunlicher Erkenntnisse über das Innenleben der NVA und ihr inneres Gefüge aus, über den Alltag in der Kaserne, über Anpassungsdruck "bei der Fahne" und soldatische Subkultur. Die meisten Wehrdienstleistenden, die die SED in der NVA zu "sozialistischen Soldatenpersönlichkeiten" formen lassen wollte, fühlten sich abgestoßen. "Die realen, keineswegs ,sozialistischen' Zustände, die sie in der ,Arbeiter-und-Bauern-Armee' der DDR erwarteten, führten in der Regel zu Gleichgültigkeit, Desinteresse und Frustrationen, nicht selten auch zu Renitenz und widerständigem Verhalten." Nicht selten hieß die Endstation Schwedt - eine Strafvollzugseinrichtung speziell für Soldaten mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren. In einer damals selbstverständlich unveröffentlichten Rede vor dem Kollegium seines Ministeriums legte Verteidigungsminister Heinz Hoffmann 1978 Mißstände in der NVA offen, die im Westen niemand für möglich gehalten hätte - nämlich "zunehmende Fälle der Verherrlichung des Faschismus im Zusammenhang mit antisowjetischen, antisemitischen und revanchistischen Äußerungen sowie von Angriffen auf die führende Rolle der Partei, verbunden mit Repressalien von Parteimitgliedern" - "Tendenzen", wie er hinzufügte, die selbst bei jungen Offizieren, Unteroffizieren und Offiziersschülern aufgetreten wären.
Warum aber hat die Volksarmee, um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, in der friedlichen Revolution der DDR nicht auf die demonstrierenden Massen geschossen? Warum keine "chinesische Lösung"? Schließlich waren die Streitkräfte nicht nur Instrument zur Landesverteidigung nach außen, sondern auch zur Sicherung der Macht im Inneren. Wie Hans Ehlert in seiner Studie zur Rolle der NVA im Vorfeld der deutschen Einheit nachweist, waren Vorbereitungen dazu getroffen. An mehreren Standorten waren bereits militärische Einsatzhundertschaften aufgestellt, 183 an der Zahl, sie kamen mit Schlagstöcken verschiedentlich sogar zum Einsatz. Die Gewehre aber blieben in den Waffenkammern. Die militärische Führung verhielt sich so, wie sie es bis dahin gewohnt war: "nämlich die von der politischen Führung der Partei erteilten Befehle zu befolgen. Da diese ausblieben, erfolgten auch keine militärischen Maßnahmen." Weil sich die Sowjettruppen in der DDR jeder Einmischung enthielten und anders als am 17. Juni 1953 der SED ihre "brüderliche Hilfe" verweigerten, war Gewalt keine Alternative mehr für das ancien régime.
Bleibt zum Schluß ein Eklat zu erwähnen, zu dem es seinerzeit in Potsdam kam, als einer der Autoren, Roman Grafe, zur Bestürzung leitender Herren im MGFA in seinem Referat über die DDR-Grenztruppen einen wegen Beihilfe zum Totschlag an "Grenzverletzern" zu einer Bewährungsstrafe von fünfzehn Monaten verurteilten, nun als Gast und Zeitzeuge begrüßten Ex-General der NVA mit den Worten provozierte: "Der Totschläger sitzt nicht im Gefängnis, er sitzt in der ersten Reihe." Die Herausgeber bewiesen Respekt vor der Meinungsfreiheit. Auch diesen Eklat ließen sie in dem gelungenen Band verzeichnen.
KARL WILHELM FRICKE
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