kennen, und er besucht in Jaipur lichtdurchflutete Werkstätten der Marmorschneider oder in Agra auf Blumenintarsien in der "Pietra dura"-Tradition spezialisierte Handwerker. Der Taj, dessen Aufrisspläne den Dichter an die Metrik eines Sonetts erinnern, gibt ihm Anlass für Gedanken über die selbstverständliche Schönheit und Wucht einer Kunst, die sich als "Meisterwerk vieler Meister" im Moment ihrer Vollendung vom menschlichen Schaffensakt gelöst habe. Bei der Inspektion am Ort, gemeinsam mit täglich bis zu achtzigtausend touristischen Nebenbuhlern, entgehen Politycki jedoch keineswegs die historischen wie gegenwärtigen Risse im marmornen Mythos: Auch wenn das Mausoleum laut Narrativen der Tourismusindustrie Zeugnis unverbrüchlicher Liebe von Shah Jahan und Mumtaz Mahal war, klärt ihn sein Begleiter über die arrangierte Ehe und das ausschweifende Leben des Großmoguls auch nach dem Tod der Lieblingsfrau auf. Ferner ließ Shah Jahan Hindu-Tempel zerstören, und heute ist das muslimische Taj der hinduistischen Regionalregierung ein Dorn im Auge. Enttäuscht von Marmorfraß durch Umweltverschmutzung, Trivialisierung, Trillerpfeifen wachhabender Soldaten zwecks Regulierung des stromlinienförmigen Tourismus und Disneyfizierung, sucht der Schriftsteller und Restromantiker Politycki, der die Illusion vom "märchenhaften Indien" nicht begraben will, nach Wegen, dem Bauwerk seine Würde wiederzugeben, verlässt die "ästhetische Versuchsanordnung" und den auratisierenden Rahmen und findet das Erhabene ausgerechnet im touristenbereinigten Anblick des Taj Mahal von einem Müllberg aus. Indien, schließt der Autor, sei zwischen Makel und Magie, Schauerromantik und Dekonstruktion "schrecklich schön".
sg
"Meine Reise zum Tadsch Mahal" von Matthias Politycki. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018. 160 Seiten. Gebunden, 20 Euro.
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